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inhalt bzw. auch beruflicher Werdegang stellt im Übrigen eine wichtige Leitlinie
lebensgeschichtlichen Erzählens dar.
3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse
Inhaltlich direkt anschließend an die beiden vorhergehenden Kapitel wird nach-
folgend der Aspekt der Idyllisierung des traditionellen sozialen Gefüges, des bäu-
erlichen Lebens und sogar der einfachen Verhältnisse, unter denen die meisten
ZeitzeugInnen aufwuchsen, analysiert. Der Topos „früher war’s hart, aber schön“
wird im Großteil der vorliegenden lebensgeschichtlichen Erzählungen bemüht
und nimmt vorzugsweise zweierlei Gestalt an, die hier an konkreten Beispielen der
Reihe nach aufgezeigt werden sollen.
Die häufigste Form der Idyllisierung einfacher Verhältnisse äußert sich im Rah-
men der Feststellung „… aber wir waren zufrieden“. Ein Gutteil der Befragten stellt
im Laufe der Erzählungen wiederholt fest, dass man selbst – sowie die Menschen
im Montafon ganz allgemein – „früher“ zumeist zufriedener war als dies heute der
Fall ist. Zwei Beispiele sollen den Einsatz dieses Topos illustrieren:
IJ ♂, geboren 1924:
IJ: Ja, wir sind hier in Vandans in Innerbach aufgewachsen, verhältnismäßig
sehr einfach. Es war eine sehr große Familie mit sechs Kindern und da war ich
das vierte Kind davon und habe … mit den Geschwistern war es eigentlich,
obwohl wir sehr ärmlich aufgewachsen sind, recht zufriedene Zeit soweit.
YB ♂, geboren 1915:
I: Waren Sie oben auf der Alpe?
YB: Ja.
I: Wie war das? Was haben Sie tun müssen?
YB: Das waren arme arme Zeiten. Essen war mangelhaft, Unterkunft ganz
schlecht. Aber man war zufrieden. Zufriedener als heute.
Am Beispiel dieser beiden Ausschnitte kann sehr schön aufgezeigt werden, wie
der Topos von der Zufriedenheit in den Erzählungen zum Einsatz kommt. IJ bei-
spielsweise bemüht sich, gleich zu Anfang des Interviews einen Überblick über die
Situation in seiner Kindheit zu geben. Um sich nicht schon eingangs in Details zu
verlieren, greift IJ auf zusammenfassende Formulierungen zurück. YB hingegen
fühlt sich in der Interviewsituation nicht wohl und es bedarf wiederholter Nach-
fragen durch die Interviewerin, bis der Erzählfluss einigermaßen in Gang kommt.
Im obigen Ausschnitt greift YB einerseits auf Allgemeinplätze zurück, um über-
haupt etwas zu sagen, und verwendet diese andererseits als werthaltige Endpunkte,
um immer wieder zu signalisieren, dass es hier seines Erachtens nichts zu erzählen
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439