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HeilerInnen dokumentiert.516 Zu den Beschwerden, die von HeilerInnen vor-
rangig behandelt wurden, zählten etwa Hautausschläge oder Erkrankungen des
Viehs, aber auch das Wespen- oder Diebsbannen wird als häufige Praxis erwähnt.
In vielen Fällen stellten bestimmte Sprüche, die von Generation zu Generation
weitergegeben wurden, das Heilmittel im eigentlichen Sinn dar. Bereits Mitte der
1980er Jahre zeichnete sich allerdings ab, dass nachfolgende Generationen kaum
mehr Interesse an diesem „Aberglauben“ zeigten und die Zahl der HeilerInnen
stark im Abnehmen begriffen war.517 Der große Stellenwert des Wunderheilens in
den lebensgeschichtlichen Erzählungen bestätigt die ehemals große Rolle dieser
Praxis im Montafon – aber auch hier wird ausschließlich von bereits verstorbenen
HeilerInnen und weit zurückliegenden Heilungen berichtet. Spruch- und Gebets-
heilerInnen stellen somit vor allem in historischen Zusammenhängen ein regio-
nales Merkmal des Tales und eine wichtige Erfahrung der MontafonerInnen dar.
3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus
Gewissermaßen zum Abschluss und im Sinne eines nochmaligen Herausstrei-
chens soll in diesem Kapitel am Beispiel des Erzählstoffes „Kultur- und Jugendpes-
simismus“ ein letztes Mal ein weiterer Aspekt eines der zentralsten Themen in den
lebensgeschichtlichen Erzählungen herausgearbeitet werden: der unbegreiflich
erscheinende Wandel der Lebenswelten im Laufe des 20. Jahrhunderts.
Zahlreiche ZeitzeugInnen thematisieren diesen Wandel, indem sie ihre Sorge
oder Unzufriedenheit in Bezug auf aktuelle soziokulturelle Gewohnheiten, Lebens-
stile oder gesellschaftliche Wertvorstellungen äußern. Das Ergebnis dieser Sorge
sind häufig ausführliche Beschreibungen der kritisierten Beobachtungen. Vielfach
gehen diese kritischen Erzählungen, die ohne weiteres als kulturpessimistisch
bezeichnet werden können, mit bestimmten Topoi des Erzählens einher. Nachfol-
gend sollen fünf Ausschnitte die Bandbreite aufzeigen, in der die ErzählerInnen
Gegenüberstellungen vornehmen, um ihre Kritikpunkte am Heute aufzuzeigen.
XX ♀, geboren 1907:
XX: Wir hatten auch keinen Arzt, der nächste Arzt war in St. Gallenkirch
und der hat kein Auto gehabt, der ist nur mit Fuhrwerken, hat man ihn beför-
dern können. Da war ein Mann hier, der hat zwei Pferde gehabt, und der hat
dann den Arzt geholt der sowas. Auto war keines da. Das war alles, alles viel
einfacher. Und man hat auch das gesündere Essen gehabt, wie heute. Heute
sagt man oft, was soll man denn da noch essen? Ist ja alles verpfuscht. Alles ist
vergiftet. Und das hat man früher nicht gekannt.
516 Schneider, Ingo: Volksmedizin zwischen Tradition und Moderne. Von SpruchheilerInnen und
MagnetiseurInnen im Montafon. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 89 (1993) Heft 1.
S. 87–100.
517 Schneider: Volksmedizin zwischen Tradition und Moderne. S. 97f.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439