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Darauf wies bereits im Kapitel 3.1. „Einstiege in die lebensgeschichtlichen
Erzählungen“ die Einführung der 1929 geborenen KL hin, die gleich eingangs fest-
stellt „Die Montafoner haben immer gerne geschmuggelt“ und mit einer persönlichen
Schmuggler-Anekdote aufzeigt, dass das Schmuggeln nicht nur „Männersache“
war. Mit ihrer Darstellung bringt die Erzählerin auf den Punkt, was die zahllo-
sen, umfangreichen Schmuggelgeschichten im Montafon indirekt bestätigen: Das
Schmuggeln sei nicht nur typisch für das Montafon, sondern die MontafonerInnen
schmuggelten auch „gerne“, das heißt nicht nur aus wirtschaftlicher Not, sondern
aus Leidenschaft. Damit werden die Attribute, die um den typischen Schmuggler
konstruiert werden, nämlich stark, ausdauernd, mutig, verwegen, listig und klug,
schließlich auch zu Attributen der Montafoner Identität.
3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten
Aussage und Funktion der im vorhergehenden Kapitel dargestellten Schmugg-
lergeschichten ähneln jenen der in die lebensgeschichtlichen Erzählungen einge-
flochtenen Wilderergeschichten überwiegend. Auch hier stehen die Erzählungen
in einer langen Tradition des Volksgesangs, der Volkserzählung sowie der Litera-
tur in Bezug auf das Wildern und die Darstellung des Wildschützen als bedürfti-
gem Rebellen.426 Die Erzählungen der MontafonerInnen spiegeln diesen Prototyp
wider: Einerseits werden die Wilderer als notleidende, arme Bauern beschrieben,
die mit dem Fleisch ihre Familie versorgten. Die nachfolgende Darstellung des
1924 geborenen IJ entspricht diesem Muster und zieht Parallelen zum bereits in
einem anderen Kapitel eingehend thematisierten Schwarzschlachten:
IJ: Früher hat man eher gewildert. Verschiedene hat man gewusst. Weil eben
das Essen knapp war, hat man gewusst, da versuchen die etwas Wild zu erle-
gen. Aber unter dem Krieg war ja alles genau. Da hat man versucht, wenn ein
Kalb … oder wenn eine Kuh zwei Kälber hatte, dann hat man nur eines ange-
meldet und hat eines heimlich praktisch hochgezogen und dann geschlachtet
vielleicht. Das gab es ja immer wieder. Man hat halt versucht zu überleben.
Wenn’s ging irgendwie.
Als Erzähler, der Wilderergeschichten nur über Dritte erzählt bekam, fällt IJs Dar-
stellung kurz und emotionslos aus – verzichtet jedoch nicht auf eine Erklärung des
Phänomens. IJ bezieht sich in seiner Erzählung auf die Kriegsjahre und erklärt die
Beweggründe zu wildern mit „knappem Essen“ und dem „Versuch zu überleben“.
Analog zu Hunger und Not wird in manchen Darstellungen auch die Möglichkeit
des Zuverdienstes aufgezeigt. Der 1928 geborene WW beispielsweise erzählt, dass
er mit einem Marderfell einen Monatslohn erwirtschaften konnte:
426 Vgl. Girtler, Roland: Wilderer. Rebellen in den Bergen. Wien 2000.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439