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rung der „Freiheitskämpfer“, etwa durch den Pfarrer im Dorf, als unangebracht, da
es sich hier schließlich um Deserteure gehandelt hätte, die die Not des Verstecks
zur Tugend des Widerstandes uminterpretierten. Andererseits geht AZs Erwäh-
nung der „Freiheitskämpfer“ in eine Rechtfertigungsgeschichte über, im Bemühen
jene zu verteidigen, die „aus Sorge um die Familie“ nicht desertiert seien und kei-
nen Widerstand geleistet hätten.
Der brisante Erzählstoff über Widerstand im Dorf zeigt auf, wie diese Thematik bis
heute die ZeitzeugInnen berührt, und lässt erahnen, wie die Ereignisse während
des Zweiten Weltkrieges auch in den nachfolgenden Jahrzehnten das dörfliche Mit-
einander prägten – wenngleich die Haltung der Menschen während dieser Jahre
vermutlich kaum je offen reflektiert wurde. Wie sehr der Erzählstoff bewegt und
nicht zuletzt auch inszeniert wird, darauf weist schließlich die Wortwahl hin. In
allen vier Ausschnitten wurde ein anderer Begriff für die Männer gefunden, die
in der wissenschaftlichen Literatur später als „Widerstandsbewegung“ bezeichnet
wurden: von den „Partisanen“ über „Heimatverteidiger“ oder „Heimatwehr“ bis
hin zu den – zynisch gemeinten – „Freiheitskämpfern“ spiegeln alle Bezeichnungen
gewisserweise die Theatralik, die auch die Darstellungen in den Erzählungen prägt.
3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“
Die französische Befreiung stellt einen zentralen Erzählstoff in Bezug auf die Jahre
nach dem Zweiten Weltkrieg dar. Die französischen Truppen überschritten am 29.
April 1945 die Vorarlberger Grenze, anfangs stellten sich ihnen noch Wehrmacht
und SS entgegen, doch schließlich verlief der Einmarsch weitgehend konfliktfrei.
Im Montafon marschierten die französischen Truppen Mitte Mai ein. Besonders
in Erinnerung blieben hier den ZeitzeugInnen die marokkanischen Soldaten, die
im Krieg auf französischer Seite gekämpft hatten und im Montafon aufgrund ihrer
dunkleren Haut und einer Uniform mit Turban schon optisch auffielen. Die fran-
zösischen Truppen zogen sich 1953 aus Vorarlberg zurück.401
Im Titel dieses Kapitels, sowie in den nachfolgenden Ausführungen, werden –
entgegen dem wissenschaftlichen Usus, von den französischen Truppen als den
„Befreiern“ zu sprechen – die Begriffe der „Besatzung“ bzw. der „Besatzungssol-
daten“ verwendet. Alle ZeitzeugInnen sprachen in ihren Erzählungen von der
„Besatzungszeit“ und den „Besatzern“, ungeachtet ihrer durchaus auch positiven
Erinnerungen an diese Jahre. Dass die Verwendung des Begriffes „Besatzung“
unmittelbar auf eine politische Disposition der ErzählerInnen rückschließen lässt,
kann nicht vorab angenommen werden. Vielmehr handelt es sich hier um einen
Begriff, der unreflektiert übernommen und in den Erzählungen verfestigt wurde.
Um der Nähe zu den Erzählungen der Befragten willen wird ihre Terminologie
nachfolgend übernommen.
401 Eisterer, Klaus: Die französische Besatzungszeit. In: Vorarlberg Chronik. Dornbirn 20053. S. 243.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439