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von Schruns gekommen, noch nie einen Turnsaal gesehen. Dann haben wir
über einen Bock springen müssen. Wir sind halt drüber gesprungen, „wenn’s
nis ussitätscht hot, isch nis gliech gsi“295, und dass man nicht als feig gegolten
hat. Oder eine Grätsche vom Hochreck herunter, ja wir sind halt herunter
gefallen, wie die faulen Äpfel. Es ist furchtbar gewesen. Dann hast du boxen
müssen, boxen. Boxen mit Boxhandschuhen, hat man das vorher auch nie
gelernt. Man hat nicht aufgehört, bis nicht jeder aus Mund und Nase heraus
geblutet hat. Oder man ist in ein Schwimmbad gegangen. Ja, wir mussten von
der Seite hinein einen Salto rückwärts ins Bad hinein machen. Oder auf einen
Baum hinauf, von dort hinein springen. Oder über einen Stacheldrahtzaun
hüpfen. Alles, das hat dazu gehört, um eben deutsche Jungen zu erziehen. Das
hat es eben gebraucht. Und dann hat man natürlich auch theoretisch geprüft.
Mathematik, dann viel in Geschichte auch noch. In Deutsch, sind Diktate
gewesen und alles Mögliche. Und das ist 14 Tage so durchgegangen. Und viel,
viel marschieren mussten wir. Das ist ja … das kann man sich gar nicht mehr
vorstellen, wie das da zugegangen ist. Gewohnt haben wir in einem Saal, alle
sind wir da, 35 in so einem Schlafsaal drinnen gewesen. […] Und dann ist
es in dieser LBA, ja gut, da gäbe es ja viele Geschichten zu erzählen, wie das
zugegangen ist in diesem Heim. Das sind nämlich brutale Zustände gewesen.
JJs Darstellung verdeutlicht den Drill junger Menschen in NS-Bildungseinrichtun-
gen, der insbesondere auf sportliche Leistungen, Mut und Gehorsam fokussierte,
in einprägsamen Bildern. Auffallend in JJs Erinnerungserzählungen, aber auch in
den Darstellungen anderer, ist die Häufung des Themas Drill von Jugendlichen
und Kindern in der NS-Zeit. Der besondere Erzählwert dieses Stoffes entsteht
eventuell in Bezug auf die heutige gesellschaftliche Situation – oder besser: wie
diese von den ZeitzeugInnen wahrgenommen wird. Ganz im Sinne des bereits
bekannten Dauerthemas Wandel wird die harte, extreme Erziehung zu Disziplin
und Gehorsam implizit einer heutigen „Kuschelpädagogik“ gegenübergestellt. Die
ErzählerInnen ziehen insofern persönliche Vorteile aus ihren Darstellungen, als
sie beeindruckende, mutige Leistungen präsentieren, die sie unter großem Druck
oder sogar Angst vollbrachten und auf die sie nicht zuletzt stolz sind. Daraus ergibt
sich ein Zwiespalt in den Erzählungen: Einerseits kritisieren die ZeitzeugInnen die
Pädagogik jener Tage, andererseits gehen sie aus diesen erschwerten Bedingun-
gen gewissermaßen als SiegerInnen, als Überlebende hervor, was ihnen das Image
einer robusten, abgehärteten Persönlichkeit verleihen soll.
3.4.17. In der Hitlerjugend
Der schulische Unterricht war eng verzahnt mit der außerschulischen Erziehung,
die im Rahmen der Hitlerjugend schon bald flächendeckend angeboten wurde.
Die Hitlerjugend umfasste verschiedene Organisationseinheiten, unterteilt je nach
295 wenn wir gestürzt sind, ist es uns egal gewesen.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439