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78 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen
Ein dem vorhergehenden Thema der „Sagenhaften Erzählungen über die AhnIn-
nen“ eng verwandter Erzählstoff ist das Themenfeld der „Franzosengänger“ oder
„Schwabengänger“. Die kleinstrukturierten Landwirtschaften sowie wirtschaft-
liche Notlagen zwangen die MontafonerInnen bis ins 20. Jahrhundert hinein zu
saisonalen Wanderbewegungen. Noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts arbeiteten
beispielsweise in St. Gallenkirch über die Hälfte der über 20 Jahre alten Männer
während des Großteils des Jahres im Ausland. Zum wichtigsten Handwerk zählte
das Bauhandwerk (Maurer, Steinmetze, Stukkateure und Zimmerleute) in Frank-
reich, der Schweiz oder Süddeutschland, bzw. jenes der „Krautschneider“, die mit
ihren sechsmesserigen Krauthobeln von Holland bis nach Ungarn zogen, um in
privaten Häusern Krautköpfe zu schneiden.51
Bei den Geschichten über die AuslandsarbeiterInnen unter den AhnInnen
handelt es sich um gute Beispiele für sogenannte Mustererzählungen. Keine und
keiner der Befragten war selbst noch als Maurer, Gipser oder Stukkateur für län-
gere Zeit in Frankreich, geschweige denn als KrautschneiderIn tätig, und dennoch
geben immerhin 17 Personen von sich aus Anekdoten über die Erlebnisse ihrer
Vorfahren in Frankreich, oder auch von anderen Saisonarbeiten im Ausland, wie-
der. Der 1915 geborene OO etwa berichtet vom Krautschnitt, den seine Eltern bis
zum Ersten Weltkrieg in Deutschland anboten:
OO: Eine Tätigkeit haben meine Eltern gemacht, den sogenannten Krautschnitt.
Sie haben in Deutschland einen Platz gehabt, wo sie den Krautschnitt über-
nommen haben. Vor dem Ersten Weltkrieg haben sie das gemacht. Nach dem
Zweiten Weltkrieg war meine Mutter noch einmal draußen. Aber es ist nichts
mehr gegangen. Einzelne aus Gaschurn haben das gemacht. Auf einem Kraut-
hobel steht noch der Name, von dem sie das Geschäft übernommen haben.
Der Krauthobel ist noch von Hand gemacht. Bis letztes Jahr haben wir damit
auch immer Kraut geschnitten.
Im Vergleich zu anderen ArbeiterInnen (z.B. in Fabriken) wurde den Saisonarbei-
terInnen, denen das Flair der Weltläufigkeit anhaftete, von der eigenen Umgebung
ein höheres Sozialprestige zugebilligt.52 Dabei übertraf wiederum der Verdienst
der KrautschneiderInnen jenen der Bauarbeiter bei weitem, sodass nicht wenige
von ihnen im Herbst ihre Arbeitsstellen in Frankreich verließen, um noch einige
Wochen im Rheinland mit Krautschneiden zu verbringen.53 Während es sich bei
den „KrautschneiderInnen“ durchaus um weibliche Wanderarbeiterinnen handeln
51 Niederstätter, Alois: Vorarlberger als Gastarbeiter. In: Vorarlberg Chronik. Dornbirn 20053. S. 59.
52 Niederstätter, Alois: Arbeit in der Fremde. Bemerkungen zur Vorarlberger Arbeitsmigration vom
Spätmittelalter bis zum 19. Jahrhundert. In: Montfort – Vierteljahresschrift für Geschichte und
Gegenwart Vorarlbergs 48 (1996). S. 105–117. Hier S. 110.
53 Niederstätter: Arbeit in der Fremde. S. 109.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439