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22 1.2. Entstehung und Funktion von Erinnerungen
Forschungsrichtungen und -techniken, die sich auf biografische Erzählungen
und Interviews stützen, mussten sich lange Zeit die Kritik gefallen lassen, dass
ihre Methoden aufgrund der subjektiven Darstellung von Sachverhalten seitens
der Befragten unwissenschaftlich seien.23 Dieser Vorwurf, der sich insbesondere
an die Oral History, aber auch an die Biografieforschung richtete, war mitunter
auf die Memoiren und Erzählungen jener Menschen, die den Nationalsozialismus
miterlebt oder gar mitgestaltet hatten, zurückzuführen. Viele Erinnerungen an die
Geschehnisse zwischen 1933 und 1945 erwiesen sich als weitgehend unzuverlässig
und waren von Verdrängungen, stereotypisierten Entschuldigungen, nicht zuletzt
von direkten Lügen verformt.24 Die Folge war eine Stigmatisierung der Erinnerung
als zeitgeschichtliche Quelle in den Wissenschaften.25
Neuere Forschungsergebnisse der Neurowissenschaften sind durchaus geeig-
net, der Kritik der Erinnerungsfähigkeit – und nicht zuletzt der wissenschaftli-
chen Arbeit auf Basis von Erinnerungserzählungen – neuen Auftrieb zu geben.
Um die Leistungen von Gedächtnis und Erinnerung reflektieren zu können, soll in
der Folge ein kleiner Überblick über deren Funktionieren und ihre Eigenschaften
gegeben werden.
1.2.1. Wahrnehmung
Auch in kulturwissenschaftlichen Zusammenhängen steht der Entstehung von
Erinnerung(-serzählung-)en die Frage danach voran, wie Menschen ihr eigenes
Leben im Geschichtsverlauf wahrnehmen. Schon die Wahrnehmung und die
Interpretation eines Ereignisses folgen im Augenblick des Geschehens bestimmten
Regeln und Mustern, da im individuellen Bewusstsein bereits vor dem Ereignis
kulturelle Rahmen als Strukturierungsmatrizen für die Verarbeitung von Informa-
tionen wirksam sind.26 Diese Tatsache verdeutlichte in wissenschaftlichem Rah-
men erstmals der Psychologe Frederic Bartelett mit einem Experiment Ende der
1920er Jahre. Bartelett legte britischen Studierenden eine Geschichte vor, die bei
nordamerikanischen Ureinwohnern aufgezeichnet worden war und den Versuchs-
personen in Bezug auf Erzähltraditionen dementsprechend exotisch erscheinen
musste. Die Studierenden wurden aufgefordert, die Geschichte zu lesen und sie
anschließend weiterzuerzählen. Dieses Weitererzählen sollte, analog zum Prinzip
23 Grele, Ronald: Ziellose Bewegung. Methodologische und theoretische Probleme der Oral History.
In: Niethammer, Lutz (Hg.): Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis. Die Praxis der „Oral
History“. Frankfurt a. M. 1980. S. 143–161. Hier S. 144.
24 Niethammer: Einführung. S. 11.
25 Fuchs-Heinritz, Werner: Soziologische Biographieforschung: Überblick und Verhältnis zur All-
gemeinen Soziologie. In: Jüttenmann, Gerd und Hans Thomae (Hg.): Biographische Methoden in
den Humanwissenschaften. Weinheim 1998. S. 3–23. Hier S. 7f.
26 Berger, Peter und Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Frank-
furt a. M. 200420. S. 24.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439