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278 Viele ZeitzeugInnen fassen die Kriegsjahre zwischen den Geschichten, die ihre
Lebensgeschichte konstituieren, kurz und bündig als „schlimme Zeit“ zusammen,
um darauf Bezug nehmend schließlich darzustellen, was sie als besonders schlimm
erachteten. Nahrungsmittelknappheit, politische Repression, Verhaftungen und
Gewalt oder gefallene Familienmitglieder stehen in den Erzählungen der Zeitzeug-
Innen, die den Zweiten Weltkrieg im Montafon erlebten, im Vordergrund. Aber
auch die Nachwirkungen des Krieges auf das Familienleben, die zwischenmensch-
lichen Beziehungen sowie die Biografien an sich werden angedeutet. Die Nachhal-
tigkeit dieser „schlimmen Zeit“ in Bezug auf das Leben der Überlebenden stellt
sich in vielen Dimensionen dar. In diesem Zusammenhang stellt etwa auch die
1904 geborene EV im nachfolgenden und abschließenden Ausschnitt doppeldeu-
tig fest, dass die „böse Zeit“ „in vielen Familien allerhand hinterlassen“ hätte – wobei
sie sich hier nicht nur auf Verletzungen wie die ihres Sohnes bezieht:
EV: Oh ja. Ist eine böse Zeit gewesen, die 30er Jahre und danach bis der Krieg
zu Ende gewesen ist. […] Bei der Ausbildung hat ihn ein Ziegelstück am Kopf
getroffen beim Bombenangriff. Ist eine Bombe explodiert und ein Stück hat
ihn am Kopf getroffen. Und das hat ihn dann später umgebracht. Viel viel
später hat er da dann einen Tumor bekommen. Er ist operiert worden, aber
das hat nichts mehr … weil der ist wieder nachgewachsen. Ja, er hat allerhand
hinterlassen, wie in vielen Familien. Der Krieg …
3.4.27. Flüchtlingsgeschichten
Ein großes Thema in der Geschichte des Montafons und auch in den lebensge-
schichtlichen Erzählungen stellt die topographisch grenznahe Lage des Tales –
nämlich am Rande Vorarlbergs, Österreichs, bzw. zwischen 1938 und 1945 auch
des Deutschen Reichs – dar. Die große politische Relevanz der Lage des Montafons
zeigt sich unter anderem in seiner Rolle als Ziel und Ausgangspunkt für die Flucht
in die Schweiz über die Grenze im Gebirge. Besonders während der NS-Zeit ris-
kierten hunderte Menschen die nicht nur beschwerliche, sondern auch gefährli-
che Flucht über die entlang des Silvretta- und Rätikon-Gebirgsstockes verlaufende
Grenze ins benachbarte Prättigau.368
Die Fluchtbewegungen durch das Montafon blieben der Bevölkerung nicht
verborgen: Viele ZeitzeugInnen streuen immer wieder Andeutungen in Bezug auf
die Rolle des Montafons für Flüchtlinge aus dem Deutschen Reich ein und einige
wenige ZeitzeugInnen erwähnen immerhin konkrete Erlebnisse mit Flüchtlingen.
Begegnungen mit Flüchtlingen konnten, gerade wenn es sich um flüchtige Solda-
ten handelte, mitunter gefährlich sein. Da diese meist versuchten, völlig ungesehen
368 Vgl. Kasper, Michael: „Durchgang ist hier strengstens verboten.“ Die Grenze zwischen Montafon
und Prättigau. In: Hessenberger, Edith (Hg.): Grenzüberschreitungen. Von Schmugglern, Schlep-
pern, Flüchtlingen. Aspekte einer Grenze am Beispiel Montafon-Prättigau. (= Sonderband zur
Montafoner Schriftenreihe 5) Schruns 2008. S. 79–108.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439