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und von dort in die ganze Welt vertrieben.140 XX spricht hier mit dem Hinweis auf
die neuen Stickmaschinen in den 1920er Jahren indirekt eine kleine Revolution in
einer damals bereits seit Jahrzehnten wichtigen Zuerwerbsbranche für Frauen an.
XXs Erzählung stellt ein schönes Beispiel für Modernisierung in traditionell
weiblichen Arbeitsbereichen dar, wobei sie auch hier auf die üblichen Muster
zurückgreift, wie auf das Betonen der ehemals einfachen Verhältnisse oder auf
das Anführen konkreter Summen für die erbrachten Leistungen zur Veranschau-
lichung des Wandels.
3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge
In diesem Kapitel liegt der Schwerpunkt auf Erzählungen, die das Alltagsleben
thematisieren. Wenig überraschend ergeben sich hier viele Überschneidungen mit
den Erzählstoffen der vorhergehenden Kapitel, da die Themenbereiche „Alltag“
und „Arbeit“ in den vorliegenden lebensgeschichtlichen Erzählungen eng mitein-
ander verwoben und daher auch im Rahmen einer Analyse nur schlecht trennbar
sind. Diese Problematik trifft ganz allgemein auf die Unterteilung der biografi-
schen Erzählungen in verschiedene Themenbereiche oder Erzählstoffe zu, denn
eine Untergliederung der komplexen, umfassenden Darstellungen kann nicht
anders als willkürlich sein. Diesen Sachverhalt verdeutlicht auch der nachfolgende
Ausschnitt, in dem verschiedenste Themenbereiche aus dem bäuerlichen Alltags-
leben unmittelbar aneinandergereiht werden. Der 1945 geborene DD gibt in die-
sem Ausschnitt Einblick in seine Wahrnehmung eines „Lebens, wie es früher war“:
DD: Ich war halt dann nach der Schule viel meinem Vater helfen in der
Werkstatt. Weil wir ja selber eine kleine Tischlerei hatten. Da war ich Möbel
machen, Schlitten machen und Schuhe machen, hab ich noch gesehen. Auch
noch die Milchfässer, wo man Milch mit Holz … da war ich schon dabei. Und
ich weiß noch, man hat den Pferden selber das Eisen beschlagen. Es war noch
eine Schmiede da, wo man die Eisen gebogen hat. [Geht raus] [Pause]
Und dann ist man im Holz gewesen. Wir haben auch mit der Handsäge dicke
Bäume gefällt und da muss man natürlich auch lernen mit der Säge umzu-
gehen. Und dann erst nachher kamen die ersten Motorsägen auf, also diese
riesen schweren Dinger, wo man … das war ja ein Stolz, jawohl. Und ich weiß
noch, da hat man die Säge morgens raufgetragen und abends wieder runter,
so schwer war die. Aber sie war ja heilig. Wie man beim Auto sagt, das „heilige
Blechle“. [lacht] So ist das heilig gewesen. [Geht raus] [Pause]
Aber dann, wo … wir hatten eigentlich wenig Kleidung. Da hat man mehr
Stoff, da hat man mehr Strickjacken gehabt, Strümpfe, kurze Hosen und natür-
lich ist man mit den Strümpfen in die Schule und die anderen haben Hosen
gehabt, dann ist man auch so ein bisschen schief angeschaut worden. Und da
140 Varga, Lucie: Zeitenwende. Mentalitätshistorische Studien 1936–1939. Frankfurt a. M. 1991.
S. 150.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439