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48 im Rahmen dessen die bereits Interviewten meist weitere mögliche ZeitzeugInnen
empfahlen, konnte der Kreis der Befragten schnell ausgeweitet werden. Wird dar-
auf geachtet, dass nicht etwa nur einem Netz von Bekanntschaften im Feld gefolgt
wird, kann mit diesem Verfahren einigermaßen variantenreiches Material erlangt
werden.3
Eine andere Vorgangsweise war schließlich die reine Orientierung am Alter
potenzieller Gewährsleute, die beispielsweise mithilfe von Geburtstagsgratulatio-
nen in Gemeindeblättern oder Tageszeitungen ausfindig gemacht und anschlie-
ßend kontaktiert wurden.
Gerade bei den biografischen Interviews gestaltete sich die Suche nach gesprächs-
bereiten ZeitzeugInnen oft schwierig – im Gegensatz zu den projektbezogenen
themenspezifischen Interviews, bei denen man schon am Telefon Interesse an
bestimmten handwerklichen Fähigkeiten, besonderen Erlebnissen der ZeitzeugIn-
nen oder anderen konkreten Umständen zeigen und so gewissermaßen Vertraut-
heit erzeugen konnte. Die Frage beispielsweise nach dem Maisäß im Familienbe-
sitz, den beruflichen Erfahrungen als Zöllner an der Schweizer Grenze oder dem
Know-how eines Funkenmeisters konnte schon bei der telefonischen Kontaktauf-
nahme eindeutig mehr Sympathien und Vertrauen schaffen, als die vage Ankün-
digung, dass man sich für das Leben der betreffenden Person interessiere oder
aufgrund ihres hohen Alters auf zahlreiche Erinnerungen hoffe. Es überrascht
keineswegs, dass derartige telefonische Kontaktaufnahmen häufig zum Scheitern
verurteilt waren, da sie Verunsicherungen oder gar Misstrauen am anderen Ende
der Leitung, und schließlich Antworten wie „Ich kann nichts erzählen“ oder „Da
müssen Sie jemand anderen fragen, ich habe nichts erlebt“ geradezu provozierten.
Als Königsweg entpuppte sich mit der Zeit jedenfalls die Vermittlung durch lokale
Autoritäten wie Bürgermeister, Lehrer oder Pfarrer, bzw. auch die Empfehlung
bereits interviewter Personen, auf die man sich schließlich beziehen konnte.
2.1.1. Der Idealtyp des narrativen Interviews und die Praxis
Auf eine erfolgreiche telefonische Anfrage folgte zumeist die Fixierung eines
Gesprächstermines, zu dem die interviewende Person ausgerüstet mit Aufnahme-
gerät, Leitfaden und manchmal auch Fotoapparat erschien. Ziel des Interviews,
nämlich die Lebensgeschichte und die Erinnerungen der befragten Person zu
erfahren, sowie der weitere Verbleib der Aufnahmen und Informationen über eine
mögliche Verwendung wurden den ZeitzeugInnen gleich eingangs mitgeteilt.
Bei der Durchführung der Interviews wurde der Idealtypus des narrativen Inter-
views angestrebt. Im Sinne seines ersten Theoretikers Fritz Schütze ist der Grund-
gedanke des narrativen Interviews die „Hervorlockung“ von Erzählungen mithilfe
der „Zugzwänge“ des Erzählens, zu denen der Zugzwang der Detaillierung, der
3 Fuchs-Heinritz: Soziologische Biographieforschung. S. 10.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439