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Einführung
Die vorliegende Arbeit orientiert sich besonders an der volkskundlichen Disziplin
und Tradition der Erzählforschung, die nach einem Paradigmenwechsel in den
1960er Jahren vor allem das „alltägliche Erzählen“ und lebensgeschichtliche Erzäh-
lungen ins Zentrum ihres Interesses stellt. Darüber hinaus repräsentiert die Ana-
lyse von lebensgeschichtlichen Interviews ein wichtiges Forschungsfeld innerhalb
der Europäischen Ethnologie. Das Interesse an „Lebensgeschichten“ erweist sich
hier als ein mehrdimensionales: Lebensgeschichtliche Erzählungen sind nur unter
anderem als Quelle, als Zugang zum Alltag von Menschen – wie dies besonders in
den Geschichtswissenschaften der Fall ist – von Interesse. In der kultur- oder ethno-
wissenschaftlichen Arbeit mit Lebensgeschichten kommt vor allem ein erzähl-
forscherisches Interesse zum Tragen: Vielmehr als das Herauslesen irgendeiner
Wahrheit zur Ergänzung einer (historischen) „Geschichte“ zählen die Frage nach
der Erinnerungspraxis im Sinne einer „Kultur der Erinnerung und einer Kultur
der Verdrängung“1 einerseits, und die Analyse wiederkehrender Erzählmuster und
Strukturen der Lebensgeschichte im Prozess des Erzählens andererseits. In diesem
Zusammenhang wird in der vorliegenden Arbeit der Begriff der „Erzähltradition“
verwendet: Welche Geschichten konstituieren bei den Befragten die „Lebensge-
schichte“? Welchen kulturellen Leitbildern folgen Struktur, Aufbau, Erzählweise
und Selbstverständnis der Erzählenden? Wie werden markante, traumatische oder
ganz alltägliche Phasen ihres Lebens in Erzählungen umgeformt?
Da das Quellenmaterial in Form von 67 lebensgeschichtlichen Interviews nicht
im Rahmen dieser Forschungsarbeit erhoben wurde, sondern implizit durch die
Erwartung geprägt wurde, mithilfe der Interviews die Geschichte eines Tales „von
unten“ für ein Museumsarchiv zu dokumentieren, mussten sich die Forschungsfra-
gen der vorliegenden Arbeit auch an den Eigenschaften des Quellenmaterials orien-
tieren. Die Besonderheit des Materials liegt darin, dass einerseits die persönliche
Biografie der Gewährsleute, und andererseits explizit ihre Erinnerungen an und
ihre Perspektive auf die Geschichte des Tales im Verlauf des eigenen Lebens Ziele
der Erhebungen darstellten. Unter Bezugnahme auf die oben dargestellten Überle-
gungen können für die vorliegende Arbeit, die auf diesen 67 lebensgeschichtlichen
Interviews basiert, als zentrale Forschungsfragen folgende formuliert werden:
(1) Welche Ereignisse und Prozesse des 20. Jahrhunderts werden im Rahmen lebens-
geschichtlicher Erzählungen erinnert?
1 Erdheim, Mario: „Ich hab manchmal furchtbare Träume … Man vergißts Gott sei Dank immer
glei“ (Herr Karl). In: Ziegler, Meinrad und Waltraud Kannonier-Finster: Österreichisches Gedächt-
nis. Über Erinnern und Vergessen der NS-Vergangenheit. Wien 1993. S. 9–20. Hier S. 10.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439