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162 bekommen haben, zu Weihnachten, als die anderen Nachbarkinder, wo Väter
gehabt haben.
UU ♂, geboren 1924, erzählt von einfachem Spielzeug:
UU: Gespielt haben wir wahrscheinlich am meisten mit so Holzscheiten. Viel-
leicht so 6 cm lange Prügel. Wir haben dann gesehen bei den Männern, die
das Holz machen, dass sie mit dem Zapin205 die Prügel gezogen haben. Und
das haben wir mit so Bauklammern, das ist unser Zapin gewesen. Und da
haben wir immer … ja das war bei uns das Spielzeug. Größtenteils. Sonst
haben wir im Wald mit Hölzern einen Zaun gemacht und die Tannenzapfen
waren die Kühe. Dann hat man die Kühe da eingezäunt. Spielzeug haben wir
da halt keines gehabt.
Die am Beispiel einzelner Interviewausschnitte angesprochenen Aspekte der
Armut – nämlich Hunger, Krankheit, ärmliche Wohnverhältnisse, Schulden, ärm-
liche Bekleidung, karge Feste und einfaches Spielzeug – zählen zu jenen Bereichen,
die für die ZeitzeugInnen in Kindheit und Jugend am ehesten erfahrbar waren und
ihre Lebenswelt und besonders die Lebenserinnerungen prägten. BDs Erzählung
von seiner Frau, die sich Brot in die Backen stopfte, um nicht mager zu erscheinen,
weist auf das für die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg typische Schönheitsideal
hin, das mit weiblichen Rundungen die vorhandene Armut konterkarierte. UUs
Kindheitserinnerungen sind überschattet von Tod und Krankheit der Geschwister
sowie der Mutter, deren Krankenhausaufenthalt die Familie mangels Versicherung
auch noch in finanzielle Schwierigkeiten brachte. KL und UU beschreiben die
Wohnsituation, die von schlechten Fenstern, einfachen Holzöfen und nicht zuletzt
häufig großen Schulden geprägt war. Die Erzählstoffe, die von ärmlicher, einfacher
Kleidung, kargen Feste und Feiern sowie vom Kinderspiel mit Naturmaterialien
um Haus und Hof handeln, stellen Mustererzählungen dar, die in dieser oder ähn-
licher Form in gut der Hälfte der untersuchten lebensgeschichtlichen Erzählungen
vorkommen.
3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“
Der Erzählstoff der „harten, arbeitsamen Kindheit“ ist in der Erzählpraxis eng ver-
bunden mit den im vorhergehenden Kapitel dargestellten Erzählungen von Armut.
Dass die Kindheit hart und arbeitsam war, war natürlich zumeist auf die ärmli-
chen Verhältnisse in der Familie zurückzuführen. Das folgende Kapitel möchte
diese Erzählungen dennoch getrennt betrachten, gerade weil auch andere Aspekte
wie eben die bereits angesprochene hohe Arbeitsmoral der ZeitzeugInnen hier
besonders einfließen. Der Großteil der Erzählungen folgt einem Motto, das der
1915 geborene OO wie folgt formulierte: „Sobald einer ein Werkzeug halten konnte,
205 Wendehaken in der Forstarbeit.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439