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422 Lebensgeschichtliche Erzählungen ermöglichen Einblicke in die Sicht der
ErzählerInnen auf die wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse (die histo-
rische Zeit) und wie diese den Alltag und das Leben mitbestimmten. Sie zeigen
Wertvorstellungen und Deutungsmuster auf, sie offenbaren, wie im Erzählprozess
bewertet und strukturiert wird, und ermöglichen eine Analyse kollektiver sprach-
licher Muster und erzählerischer Formen.6 Zumeist handelt es sich hier um kul-
turelle Vorlagen, die von den einzelnen ErzählerInnen reproduziert werden und
als Gerüst dabei helfen, die eigene Lebensgeschichte zu (re-)konstruieren. In den
nachfolgenden beiden Unterkapiteln sollen die Ergebnisse der vorliegenden For-
schungsarbeit auf die beiden Forschungsfragen nach dem Was (Was wird erzählt?)
und dem Wie (Wie wird es erzählt?) zusammengefasst und einer abschließenden
Synthese unterzogen werden.
4.1. Erzählstoffe und Leitlinien
Die erste Forschungsfrage der vorliegenden Untersuchung stellt Erinnerungsdich-
ten („reminiscence bumps“)7 und die Frage danach, was den ZeitzeugInnen als
erzählenswert erscheint („reportability“), ins Zentrum: „Welche Ereignisse und
Prozesse des 20. Jahrhunderts werden im Rahmen lebensgeschichtlicher Erzählungen
erinnert?“ Aus der Fülle der Erlebnisse und Eindrücke eines ganzen Lebensalters
kommt es in der Interviewsituation zur Auswahl bestimmter Erinnerungsgeschich-
ten. Die Auswahl dieser Geschichten erfolgt nach bestimmten Kriterien, nämlich:
Erstens in Hinblick darauf, was in den Medien und der Gesellschaft als histo-
risch wichtig im 20. Jahrhundert eingestuft wird. Die Geschichte des 20. Jahrhun-
derts wird retrospektiv als eine lineare Reihe von historischen Ereignissen emp-
funden. Die Rolle der Befragten wird im Interview ganz von selbst als ihre Rolle in
Bezug auf historische Ereignisse interpretiert – die ErzählerInnen kommen kaum
umhin, bestimmte Ereignisse wie die „Tausend-Mark-Sperre“, den „Anschluss“ an
das Deutsche Reich oder Kriegsbeginn und -ende aus ihrer Erinnerung wiederzu-
geben. Diese Darstellung der „historischen Zeit“ ist allerdings niemals vollstän-
dig. Dabei gibt es – erklärbar durch kulturelle Vorlagen und die Generation der
Befragten – Häufungen in den lebensgeschichtlichen Darstellungen (wie eben die
Ereignisse die 1930er und 1940er Jahre betreffend), aber auch andere Erzählstoffe,
die überhaupt nicht erwähnt werden. Zu diesen völlig unerwähnten historischen
Erzählstoffen zählen (rein willkürlich ausgewählt) etwa die Gründung der Repub-
lik Österreich 1955, der Kalte Krieg, die studentische 68er Bewegung, die Atomka-
tastrophe von Tschernobyl 1986 oder auch der EU-Beitritt 1995.
Zweitens spielt der Unterhaltungswert einer Erzählung bzw. der erzählerischen
Performance im Gesamten eine zentrale Rolle. Die ausgewählten Geschichten
sollen gezielt zum Lachen bringen, die ZuhörerInnen mit Unerwartetem überra-
schen, nachdenklich oder traurig stimmen oder Spannung erzeugen. Eine Reihe
6 Schuhladen/Schroubek (Hg.): Nahe am Wasser. S. 20f.
7 Vgl. Kapitel 1.2.3.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439