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3.4.31. Kriegsende
Die Erinnerungserzählungen zum Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa, das
mit der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmachtseinheiten auf
den 8. Mai 1945 datiert wird,394 thematisieren selten die Ereignisse an diesem
konkreten Tag. Zumeist wird „das Kriegsende“ als ein längerer, sich über meh-
rere Wochen erstreckender Zeitraum geschildert, der zunächst vom langsamen
Näherrücken der französischen Truppen, von Chaos, Flucht der Nationalsozialis-
tInnen oder auch Kämpfen geprägt war, und schließlich in die Beschreibung der
ersten Begegnungen mit französischen Besatzungs- bzw. Befreiungs-Truppen und
marokkanischen Soldaten übergeht. Der Erzählstoff über die Besatzungszeit im
Montafon soll in einem späteren Kapitel analysiert werden.
Die nachfolgenden zwei Ausschnitte sprechen zwei Aspekte an, die in den lebens-
geschichtlichen Erzählungen sehr häufig mit den Erinnerungen an das Kriegsende
im Montafon verbunden sind: Die Angst vor den bewaffneten NationalsozialistIn-
nen und ihren unberechenbaren Reaktionen auf das Ende des Krieges einerseits
sowie die Flucht der NationalsozialistInnen in die Schweiz andererseits:
OP ♂, geboren 1930:
OP: Ja, da haben sie dann schon fest her geschossen, weißt du, im 5. Mai ist
das noch gewesen.
I: Ja, kurz vor Kriegsende?
OP: Ja. Ja. Am 7. ist schon fertig gewesen. Am 7., 8. oder? Und am 5. haben
sie noch vom „Kreschbrig“395 her geschossen. Hat dann ein Stall gebrannt am
Kristberg drinnen, wo sie her geschossen haben.
I: Wer hat geschossen? Die Franzosen? Oder die Deutschen verteidigt?
OP: Die Deutschen verteidigt. Ja. Weil im Dalaaser Wald sind wahnsinnig
viel solche Flüchtlinge gewesen, weißt du. Die Kriegsgefangenen halt und so.
Und da haben die Deutschen halt dort hinauf geschossen.
AZ ♂, geboren 1930:
AZ: Ich habe halt oben, wo die Franzosen halt herein … bzw. ich habe da oben
das Vieh gefüttert, auf dem „Netza“. Und dann habe ich an diesem Tag den
Mist angelegt. Und dann sind zwei herunter gekommen. Das sind Landser
gewesen, Kärntner sind es gewesen, die sind geflüchtet. Ich weiß nicht, sind
sie vor der Besatzung geflüchtet. Auf jeden Fall sind sie daher gekommen.
Und dann sind sie noch bei mir oben, im Stall im Heu haben sie geschlafen.
Und da haben sie mir noch „a Hirschhara“396 oben genommen, [lacht] die sie
394 Vgl. Löffler-Bolka: Vorarlberg 1945. S. 68–130.
395 Kristberg.
396 Hirschgeweih.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439