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428 linear als Folge von Ereignissen, Handlungen und Errungenschaften dargestellt.12
Besonders deutlich wird dieses lineare Zeitverständnis in Bezug auf den Erzähl-
stoff vom wirtschaftlichen Aufschwung. Der Lebensweg der ErzählerInnen ergibt
sich aus den Faktoren Arbeit und Leistung und manifestiert sich mitunter in der
Mehrung von Eigentum, Erfahrungen oder Titeln.
Der große Stellenwert des Wandels im 20. Jahrhundert ist einerseits durch die
regelrechten Umwälzungen und ihre Bedeutung für das Alltagsleben der Zeit-
zeugInnen zu erklären. Die Lebensumstände der ErzählerInnen ähneln in keiner
Weise jenen ihrer Eltern, geschweige denn jenen der Großeltern. Doch auch die
Generation der Kinder und Enkel wächst bereits in einer völlig anderen Lebens-
welt heran. RepräsentantInnen der befragten Generationen haben im Laufe ihres
Lebens einen derart fundamentalen Wandel in vielerlei Dimension miterlebt und
mitvollziehen müssen, wie das noch bei keiner Generation zuvor der Fall war.
Andererseits sehen sich die ErzählerInnen in der Interviewsituation Angehöri-
gen ihrer Enkelgeneration gegenüber, der sie eben diese Veränderungen zu vermit-
teln und bildhaft vorzuführen suchen. Dabei greifen sie häufig auf die Darstellung
von Extremsituationen zurück und versuchen den Wandel in Form seiner Extreme
nachvollziehbar zu machen.
4.1.3. Arbeit als Lebensthema
Von der Arbeitsbiografie der Großeltern und Eltern über den Erzählstoff der
„harten, arbeitsamen Kindheit“ bis hin zum Wirtschaftsaufschwung der Nach-
kriegsjahrzehnte dominiert die lebensgeschichtlichen Erzählungen der Erzählstoff
„Arbeit“. Arbeit wird als Notwendigkeit, doch zugleich auch als Lebensinhalt und
Ideal präsentiert. Annähernd im selben Ausmaß wie die Leitlinie des Wandels bil-
den auch die Arbeits-Erzählungen eine der wichtigsten Leitlinien.
Als Erklärung für die hohe Arbeitsmoral in den lebensgeschichtlichen Erzäh-
lungen kann die traditionelle ländliche Sozialisierung der ErzählerInnen verstan-
den werden. Fleiß und Arbeitsamkeit wurden von Kind an als Tugenden inter-
nalisiert und bleiben offenbar lebenslang bestimmend.13 Die Pflichterfüllung
täglicher Arbeit steht im Wertekanon ganz oben und ist zentraler Bestandteil der
deutenden, subjektiven Sinngebung in der Lebensrückschau. Dieses Arbeitsethos
bzw. diese hohe Arbeitsmoral wird (neben den eingangs erwähnten Erzählstof-
fen) insbesondere am Beispiel des Erzählstoffes der traditionellen Landwirtschaft,
aber auch an den Beschreibungen des beruflichen Werdegangs, des wirtschaftli-
chen Aufschwungs oder des Neu-Anfangs mit dem Tourismus deutlich. Bei einem
Großteil der ErzählerInnen dominiert das ausgeprägte Arbeitsethos die gesamte
lebensgeschichtliche Erzählung. Häufig stellt Arbeit als Lebensinhalt auch eine
wichtige Leitlinie lebensgeschichtlichen Erzählens dar.
12 Holl: Geschichtsbewußtsein und Oral History. S. 73f.
13 Schuhladen/Schroubek (Hg.): Nahe am Wasser. S. 24.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439