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4.1.2. Ein Leben geprägt von Wandel
Das wichtigste, immer wiederkehrende, sozusagen zentrale Thema, das einen Gut-
teil der Erzählstoffe prägt und ihre Strukturen und Muster bestimmt, ist der Wan-
del im 20. Jahrhundert – er stellt eine der zentralsten erzählerischen Leitlinien in
den lebensgeschichtlichen Erzählungen dar. Seine Darstellung erfolgt zumeist in
einer Gegenüberstellung von Früher und Heute – seien es Arbeitstechniken, Nor-
men und Werte oder wirtschaftliche Verhältnisse. Im Rahmen der vielen kleinen
Geschichten, die die große Lebensgeschichte konstituieren, schwingen Wandel
und Veränderung hin zur heutigen Situation immer mit, häufig bildet die Bewer-
tung dieses Wandels den Schlusssatz einer ausführlichen Erzählung. Der Wandel
im 20. Jahrhundert erweist sich in den untersuchten Autobiografien als die erzäh-
lerische Leitlinie schlechthin.
Dass gerade der Wandel im 20. Jahrhundert für die Menschen ein derartig wichti-
ges und omnipräsentes Thema ist, überrascht nicht, wenn man sich die tiefgreifen-
den Veränderungen von Landschaft und Gesellschaft durch die Mobilisierung, die
Industrialisierung, die Scholarisierung, die Verkehrsrevolution, die Urbanisierung,
die Säkularisierung, die Entwicklung des Wohlfahrtsstaates, die Medienrevolution
(insbesondere Fernsehen und Internet) und nicht zuletzt die Individualisierung
vor Augen führt.11 Der Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft (und
damit des traditionellen gesellschaftlichen Gefüges) hat im Montafon später als in
anderen Regionen eingesetzt. Gerade deshalb ist das Tempo, mit dem dieser Pro-
zess im 20. Jahrhundert vor sich gegangen ist, atemberaubend und schlägt sich als
zentraler persönlicher Eindruck der ZeitzeugInnen in ihren lebensgeschichtlichen
Erzählungen nieder.
Besonders spürbar – oder zumindest erzählenswert – ist der Wandel in Hinblick
auf die Gesellschaft, deren traditionelles Gefüge einer landwirtschaftlich geprägten
und organisierten Gemeinschaft die Kinder- und Jugendjahre der ErzählerInnen
beständig bestimmte. Jedes Mitglied hatte seinen festen Platz, der Ablauf der Tage,
der Jahre, und nicht zuletzt des Lebens schien den immergleichen und vorherseh-
baren Mustern zu folgen, und das Wohl der Gemeinschaft stand über jenem der
Einzelnen, deren persönliche Leistungen vor allem als wertvoller Bestandteil der
gemeinsamen Arbeit verstanden wurden. Dieses Gefüge wird im Laufe der Jahr-
zehnte abgelöst von einer zunehmend ausdifferenzierten, individualisierten und
leistungsorientierten Gesellschaft.
Der allumfassende Wandel spiegelt sich auch im Zeitverständnis der ErzählerIn-
nen wider. Während in der traditionellen, landwirtschaftlich geprägten Gesell-
schaft das Leben als aus kleinen Zyklen bestehender großer Zyklus verstanden
wird, wird das moderne, industrialisierte, zunehmend individualistische Leben
11 Mitterauer, Michael: „Das moderne Kind hat zwei Kinderzimmer und acht Großeltern.“ Die Ent-
wicklung in Europa. In: Mitterauer, Michael und Norbert Ortmayr (Hg.): Familie im 20. Jahrhun-
dert. Traditionen, Probleme, Perspektiven. Frankfurt a. M. 1997. S. 13–52. Hier S. 47f.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439