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42 1.4. Potenzial der Erinnerungserzählungen
Die besonderen Eigenschaften von Erinnerung und Erzählung wurden in ihren
vielfältigen Dimensionen bereits ausführlich dargestellt. Im Vordergrund standen
dabei die kritische Reflexion dieser Quellen für die Wissenschaft, sowie die Ana-
lyse, in welcher Art und Weise und durch welche Faktoren Erinnerung und Erzäh-
lung geformt werden. Die bislang an den Defiziten orientierte Perspektive auf diese
Form mündlicher Quellen soll nun ins Gegenteil verkehrt werden. Nachfolgend
soll dargestellt werden, von welchem wissenschaftlichen Nutzen lebensgeschicht-
liche Erinnerungen und Erzählungen trotz aller Gedächtniskritik sein können,
und wie mit den Schwächen umzugehen ist, damit sie schließlich in Stärken für
die volkskundlich-kulturwissenschaftliche Forschung umgewandelt werden kön-
nen. Interessant sind diesbezüglich die Ergebnisse einer Untersuchung, welche die
Merkmale eines geschriebenen Textes einerseits und einer mündlichen Erzählung
andererseits – jeweils zum gleichen Ereignis – miteinander verglich, und dadurch
das Potenzial, aber auch die Schwächen von Erzählungen deutlich herausarbeiten
konnte:104
(1) Im Umfang unterscheiden sich schriftliche und mündliche Fassungen nicht
wesentlich. In der mündlichen Fassung treten jedoch Formulierungs- und
Wortfindungsschwierigkeiten auf, die das Gemeinte zum Teil nicht eindeutig
erschließen.
(2) Der mündliche Text ist teilweise lebendiger und anschaulicher sowie kon-
kreter als der schriftliche.
(3) In der mündlichen Erzählung werden wörtliche Rede und Dialoge häufi-
ger verwendet, sie sind anschaulicher und der lebendigen Rede näher, teilweise
bietet dieser Facettenreichtum des Erzählens auch eine höhere Informations-
dichte.
(4) Während das mündliche Erzählen aus einer individuellen Erlebnispers-
pektive stattfindet, orientiert sich das Schreiben an einer Chronistenperspek-
tive, die Episoden werden häufig datiert oder begrifflich in einen größeren
geschichtlichen Zusammenhang eingeordnet und sie gewinnen an faktischer
Genauigkeit.
(5) Deutlich unterscheiden sich schließlich Denk- und Fühlweise. Während die
erzählende Person eine Episode in ihrer Einmaligkeit darbietet, ordnet sie die
schreibende Person in ein Gattungsschema ein.
Obwohl also Erzählen und Schreiben aus demselben Erfahrungsvorrat gespeist
werden, weichen Erzählung und Niederschrift in wichtigen Punkten voneinander
104 Die nachfolgenden Ergebnisse sind entnommen aus: Knoch: Schreiben und Erzählen. S. 49f.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439