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rungen der ErzählerInnen unterstreichen. Zumeist bleibt es nur bei der Ankün-
digung „stundenlang“ zu erzählen, die stellvertretend für weitere Ausführungen
zum Thema in die lebensgeschichtliche Erzählung eingebaut wird. In gewisser
Weise fungiert dieser Topos als Stilmittel zur Selbstdarstellung bzw. Inszenierung
als gute/r ErzählerIn mit reichem Erfahrungsschatz.
Ein weiterer häufiger Topos lautet etwa „Das weiß heute keiner mehr“ bzw.
auch „Das wissen die Jungen alle nicht mehr“ und entspricht der Kategorie „Topoi
des Zeitenvergleichs“. Eine derartige Bemerkung soll in ihrer typisierten Form
an den Wandel im 20. Jahrhundert erinnern und erneut auf die Kluft zwischen
dem Früher und dem Heute hinweisen. Indirekt wird mit „den Jungen“ oder dem
„Heute“ auch der/die InterviewerIn angesprochen und eine starke Abgrenzung
vollzogen, die in personalisierter Form (InterviewerIn versus ZeitzeugIn) die Ex-
treme des zeitlichen und kulturellen Wandels verdeutlicht. Gleichzeitig bringt der
Topos die Einzigartigkeit des Wissens der Erzählenden sowie eine gewisse Angst
um den Verlust dieses Wissens zum Ausdruck.
Ähnlich gelagert in seiner Aussage (bzw. Anspielung) ist der Topos „Das
kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen“. Hier wird weniger das Wissen
der älteren Generation als vielmehr der Wandel der Lebenswelten angesprochen.
Gemein ist all diesen Topoi eine abwehrende oder sogar latent aggressive Haltung
der ErzählerInnen, nämlich indem eine Vermittlung bzw. Verständigung schon
vorab als unmöglich erklärt wird und auch ein Nachvollziehen der beschriebenen
Umstände durch die Zuhörenden prinzipiell negiert wird. Topoi mit dem Tem-
poraladverb „heute“ zielen stets auf einen Zeitenvergleich ab und verdeutlichen
daher, dass jede lebensgeschichtliche Rekapitulation eine Bedingung der Gegen-
wart ist, in der sie sich vollzieht.42
3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und
Mustererzählungen
Unter dem Begriff „Erzählstoff“, der in dieser Form unter anderem von Joachim
Schröder bei der Analyse von Interviews mit Soldaten im Zweiten Weltkrieg ver-
wendet wurde,43 werden in der Folge inhaltliche Themengruppen verstanden, die
sich auch in ihrer Funktion, ihrer Bedeutung für die ErzählerInnen sowie in der
Darstellung ähneln und damit die Analyse kultureller Vorlagen in Erzählungen
erleichtern. In den nachfolgenden Kapiteln wurden Erzählstoffe ausgewählt und
einer getrennten Analyse unterzogen, die in den lebensgeschichtlichen Erzählun-
gen am häufigsten oder am detailreichsten angesprochen wurden und diese somit
maßgeblich konstituiert haben. Es handelt sich hierbei um viele „kleine“ Erzäh-
lungen, welche zusammengenommen die „große“ lebensgeschichtliche Erzählung
jeder einzelnen Person erst entstehen lassen. Bei den 50 ausgewählten Themenbe-
reichen handelt es sich um ein Set von Erzählstoffen, das quasi die Basis für eine
42 Schröder: Topoi des autobiographischen Erzählens. S. 30f.
43 Schröder: Die gestohlenen Jahre. S. 273ff.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439