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304 Deutlich geht aus den Erzählungen vom Kriegsende hervor, dass die Erzähler
selbst nichts zu befürchten hatten und aufgeregt beobachteten, was die politischen
Umwälzungen nun bringen würden.
3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei
Kriegsende
Die Rolle der grenznahen Gebirgstäler war in Hinblick auf den Widerstand gegen
das NS-Regime nicht zu unterschätzen. So war es im Montafon, insbesondere in
der Gemeinde St. Gallenkirch, bereits während des Krieges, als man von den ersten
Niederlagen der deutschen Führung erfuhr, zu Gruppenbildungen von regimekri-
tischen Männern gekommen. Diese Männer machten sich die Errichtung eines
regelmäßigen Abhördienstes, das Gewähren von Unterschlupf für Fahnenflüch-
tige und Verfolgte sowie diverse Sabotageakte zum Ziel. Bei Kriegsende gelang es
den verschiedenen Widerstandsgruppen in den Gemeinden, Kontakt miteinander
herzustellen und in einer akkordierten Aktion die deutschen SS-Truppen, die sich
vermutlich mit Fluchtgedanken verstärkt ins grenznahe Montafon zurückgezogen
hatten, zu entwaffnen – allerdings gegen das Versprechen eines freien Abzuges
nach Gargellen.399
Die Erzählungen von den „Heimatverteidigern“, wie die Mitglieder der Wider-
standsbewegungen in den lebensgeschichtlichen Erzählungen auch genannt wer-
den, beziehen sich zeitlich vor allem auf eben jene Tage und Wochen um das Ende
des Zweiten Weltkrieges am 8. Mai 1945. Die Darstellungen erfüllen allerdings –
im Gegensatz zu den Erzählungen vom Kriegsende im vorhergehenden Kapitel
– häufig die Funktion einer klaren Stellungnahme zu den Geschehnissen während
der NS-Zeit. Dies gilt sowohl für Erzähler, die sich selbst als „Heimatverteidiger“
darstellen, als auch für jene, die über die Leistungen oder das Verhalten dieser
Männer berichten. Dabei sind die Positionierungen gegenüber den Errungen-
schaften durchaus unterschiedlich. Während einige ZeitzeugInnen den Einsatz
der „Heimatverteidiger“ lobend erwähnen und diese mitunter heroisieren, stellen
andere ZeitzeugInnen wiederum die Beweggründe der später vielgelobten Männer
in Frage.
Zum Einstieg ins Thema erfolgt die Wiedergabe der Erzählung des 1929 gebo-
renen KP, die durchaus selbstkritisch die damaligen Aktionen der „Partisanen“
beschreibt und dabei auch mit Ironie nicht spart:
KP: Zwei, drei Tage später haben wir wieder eine Einberufung bekommen,
also wir müssen sofort wieder nach St. Anton kommen. Und wir sind natür-
lich nicht mehr nach St. Anton gefahren, wir sind zuhause geblieben. Ist auch
niemand mehr fragen gekommen. Das war am 2. April, an Führers Geburts-
tag sind wir heimgekommen und natürlich nicht mehr eingerückt. Dann ist
399 Löffler-Bolka: Vorarlberg 1945. S. 55f.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439