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4. Zusammenfassung und Synthese
Die Analyse der lebensgeschichtlichen Erzählungen von 66 ZeitzeugInnen sowie
eine eingehendere Betrachtung der wichtigsten 50 Erzählstoffe in den Erinne-
rungserzählungen zeigen auf, dass es in den lebensgeschichtlichen Darstellungen
sehr unterschiedlicher Menschen und Biografien zahlreiche Parallelen gibt. Diese
betreffen einerseits die Auswahl der Geschichten, die die eigene Lebensgeschichte
konstituieren und repräsentieren sollen, und andererseits die Darstellungsfor-
men und die Aussagen, die über das eigene Leben getroffen werden. Lebensge-
schichtliche Erzählungen sind beispielgebend für die „rastlose Tätigkeit des Sinn-
machens“1 der Menschen – und was als Sinn und Zusammenhang interpretiert
wird, wurde dem und der Einzelnen ein Leben lang soziokulturell vermittelt. Die
Analyse von lebensgeschichtlichen Erzählungen kann somit deutlich vorführen,
wie kulturelle Schemata das Erinnern und Erzählen von Individuen prägen. Denn
„jede Kultur hat für sie typische Geschichten. An ihnen zeigt sich, welche Bedeu-
tung bestimmten historischen Ereignissen zugeschrieben wird und wie sie in das
soziale Denken integriert werden. An diesen zeigt sich auch, welche Teile der Ver-
gangenheit bedeutungslos und damit aus der kollektiven Erfahrungsbildung weit-
gehend ausgeschlossen sind. Geschichten zu verstehen heißt, sich zum Verständ-
nis der Kultur, die sie hervorbringt, hinführen zu lassen.“2
Die Forschungsarbeit wurde am Beispiel von 67 Autobiografien aus dem Montafon
durchgeführt, bezieht sich also auf eine bestimmte Region und beinhaltet damit
viele regionale Aspekte. Sie kann und soll aber nicht im eigentlichen Sinn als Regi-
onalstudie betrachtet werden. Vergleiche mit ähnlichen Studien3 zeigen auf, dass
die Ergebnisse der vorliegenden Forschungsarbeit für die untersuchten Generati-
onen durchaus repräsentativ sind – insbesondere für ländliche Gesellschaften im
deutschsprachigen Raum. Die untersuchten lebensgeschichtlichen Erzählungen
ermöglichen die Analyse gesellschaftlicher, historischer, kultureller Konstellatio-
nen.4 Sie repräsentieren das Erleben und Erinnern des 20. Jahrhunderts insofern,
als sie das Spannungsfeld zwischen Individuellem und Gesellschaftlichem verdeut-
lichen und die intersubjektive Bedeutung bestimmter Merkmale aufzeigen.5
1 Koch: Weitererzählforschung. S. 174.
2 Ziegler/Kannonier-Finster: Österreichisches Gedächtnis. S. 22.
3 Vgl. Fischer, Helmut: Erzählen – Schreiben – Deuten. Beiträge zur Erzählforschung. Münster 2001.
Lehmann, Albrecht: Erzählstruktur und Lebenslauf. Autobiographische Untersuchungen. Frank-
furt a. M. 1983.
Schuhladen, Hans und Georg Schroubek (Hg.): Nahe am Wasser. Eine Frau aus dem Schön-
hengstgau erzählt aus ihrem Leben. Eine Dokumentation zur volkskundlichen Biographiefor-
schung. München 1989.
4 Löffler: Zurechtgerückt. S. 108f.
5 Schröder: Die gestohlenen Jahre. S. 110f.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439