Seite - 10 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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10 | Leitperspektive
dennen. Kurz vor Kriegsende geriet er in US-amerikanische Kriegsgefangenschaft.
1947 fiel er in die „Weihnachtsamnestie“ und kam frei. Ein Jahr später wurde auch
sein nachsichtig geführtes Entnazifizierungsverfahren eingestellt. In den „langen“
1950er Jahren ließ er sich als Arzt nieder (zunächst in Mannheim, dann in Baden-
Baden). Für eine Saison spielte er noch für den Eishockey-Verein „VfL Bad-Nau-
heim“ (1948/49) und wurde mit diesem Verein sogar deutscher Vizemeister. 1949
heiratete er Friedl Bechtold und es begannen erneute Ermittlungsverfahren wegen
seiner Vergangenheit. 1962 tauchte er unter – er wurde international gesucht. Ari-
bert Heim änderte seinen Namen in Tarek Hussein Farid und konvertierte zum
Islam. Allem Anschein nach starb er 1992 in Kairo an Darmkrebs.4
Jahrzehnte zuvor, am 28. Juni 1919, feierte Aribert Heim seinen fünften Ge-
burtstag. Ob es angesichts der Folgen des Weltkriegs ein schöner Geburtstag war,
weiß man nicht. Bekannt hingegen ist die Tatsache, dass am selben Tag die deut-
sche Delegation in der Spiegelgalerie des Schlosses Versailles nach ultimativer
Aufforderung den Friedensvertrag von Versailles unterzeichnete. Wenige Monate
später unterschrieb die österreichische Delegation den Friedensvertrag von Saint-
Germain-en-Laye. Im Zuge dessen wurde die „Untersteiermark“ (Štajerska) des
(nun) ehemaligen Herzogtums Steiermark dem S. H. S.-Staat (genauer gesagt Slo-
wenien) zugesprochen. Die neu gezogene Staatsgrenze verlief quer durch Bad Rad-
kersburg (Radgona), Aribert Heims Geburtsort.
Im Nachhinein wäre es sicherlich anmaßend, zu glauben, dass der Erste Welt-
krieg keine Spuren in Aribert Heims Leben hinterlassen hat. Inwiefern sich der
Krieg auf die Familie Heim auswirkte, steht hier aber nicht im Zentrum. Die Art
und Weise, wie man sich an diese Frage annähern könnte, dagegen sehr wohl. Aus
meiner Sicht erscheint es wenig ergiebig, wenn man die Geschichte nur von ihrem
jeweiligen Ende ausgehend versucht zu verstehen und zu erklären. Ein derartiges
Unterfangen würde – zumindest mich – dazu verleiten, die Geschichte als natür-
lich gegebene Einbahnstraße zu betrachten. Und für einen, der Mitte der 1980er
Jahre in Österreich geboren ist, ist sie das vermutlich nicht mehr (jedenfalls nicht
für mich). Wenn man hingegen in einer Zeit sozialisiert wurde, als in Österreich
die feste Überzeugung vorherrschte, dass die Welt Jahr für Jahr „naturgesetzlich“
besser würde (weil es nach dem Zweiten Weltkrieg nur besser werden konnte),
dann kann einem mein Ansatz ein wenig fremd bzw. wenig zielführend erschei-
nen. Für mich ist aber der Glaube an die prinzipielle, gleichwohl nicht völlig will-
kürliche Offenheit der Geschichte deswegen so wichtig, weil ich der Meinung bin,
dass man so die Vielfalt möglicher Geschichtsverläufe und der ihnen zugrunde
4 Die Notizen zu Aribert Heim stammen aus: Kulish/Mekhennet (2015); Klemp (2010).
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453