Seite - 18 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
Bild der Seite - 18 -
Text der Seite - 18 -
|
Rahmenbedingungen18
er machte letztendlich Geschichte.14 Allerdings muss man sich bewusst sein, dass
die Kriegsdarstellungen der 1920er- und-1930er Jahre letztendlich mehr über die
Nachkriegszeit aussagen als über die eigentliche Kriegszeit. Betrachtet man daher
diese nach gesellschaftlicher Ordnung strebenden Kriegserinnerungen (aus Papier,
aus Stein, auf Film), gewinnt man einen Einblick in nachkriegszeitliche Formen
des Verstehens und Erklärens. Ordnung mittels Diskreditierungen, Weglassungen
und Negationen spielte dabei ebenso eine große Rolle wie das Trauern. Wie diese
geforderte sinn- und identitätsstiftende Ordnung – beispielsweise die Ordnung
zwischen den Geschlechtern, zwischen den Parteien oder zwischen den Genera-
tionen – auszusehen habe, lag im Auge des Betrachters.15 Liest man sich zum Bei-
spiel die Textstellen über die Kriegsbegeisterung von 1914 in Adolf Hitlers „Mein
Kampf“ (1925) durch, so unterscheiden sie sich von Leo Trotzkis Darstellung von
der Kriegsbegeisterung, die er in seiner Autobiografie „Mein Leben. Versuch ei-
ner Autobiographie“ (1930) schilderte.16 Beide Männer lieferten aus meiner Sicht
mit ihren zielgerichteten Büchern keine Antwort auf die Frage, wie es damals zu
Kriegsbeginn 1914 auf der Straße gewesen ist. Sie bieten allenfalls ausgefeilte Versi-
onen/Visionen, wie die Kriegsbegeisterung gemäß ihren (gesellschaftspolitischen)
Vorstellungen nachträglich zu interpretieren sei. Und diese zeitfernen Großkon-
zeptionen über die Kriegsbegeisterung sind wie Hitlers Darstellung seiner „Wiener
Lehr- und Leidensjahre“ und auch Trotzkis Darstellung von der „Oktoberrevolu-
tion“ 1917 keiner geschichtswissenschaftlichen Genauigkeit verpflichtet. Sie sind –
wie viele andere Kriegsmemoiren – keine Geschichtsbücher mit ästhetischer Note.
Ihre in Buchform vorliegenden Visionen dürfen daher nicht auf eine bloße histo-
rische Tatsachenwiedergabe reduziert werden.17
Der US-amerikanische Forscher und Veteran des Zweiten Weltkriegs Paul Fus-
sel war einer der Ersten, der in seinem wegweisenden Buch „The Great War and
Modern Memory“18 (1975) aufzeigte, dass in vielen Fällen die nachkriegszeitlichen
Kriegserinnerungen mit den Tagebucheinträgen aus der Kriegszeit (von ein und
derselben Person) nur wenig gemein haben. Das hängt nicht allein mit den sich
verändernden, aber nicht willkürlich vonstattengehenden Erinnerungen zusam-
14 Hüppauf (2013), 234, ebenso: 142 f., 290, 392. Wenn ich hier auch auf das Buch „Was ist Krieg?
Zur Grundlegung einer Kulturgeschichte des Kriegs“ von Bernd Hüppauf verweise, so schreibe
ich keine Kulturgeschichte gemäß seinen erkenntnistheoretischen Prämissen.
15 Zu den nachkriegszeitlichen Sinn- und Identitätsstiftungen: Rohkrämer (2014).
16 Nicht im Quellenverzeichnis angeführt.
17 Prägnant dazu: Baberowski (22013), 11–30. Des Weiteren der Aufsatz „Kriegsliteratur“ von
Bernd Hüppauf in: Hirschfeld/Krumeich/Renz (22014), 177–191.
18 Fussel (1975).
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453