Seite - 20 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Rahmenbedingungen20
vollziehbare Gründe. Zunächst einmal dominierte in der Zeitgeschichtsforschung
nach 1945 lange die Analyse des Zweiten Weltkriegs über jene des Ersten Welt-
kriegs. Innerhalb der Forschung zum Ersten Weltkrieg herrschte lange der Blick
auf die Diplomatie- und die engere Militärgeschichte vor. Profunde Forschungen23
über die „Heimatfront“ waren bis in die 1980er-Jahre selten und zu dieser Zeit
noch weitgehend alltags- und geschlechtsblind.24
Sieht man von wenigen Ausnahmen ab, stellte sich im deutschsprachigen Raum
keiner der (meist männlichen) Zeithistoriker die Frage nach dem Ausmaß der
Kriegsbegeisterung. Aus damaliger Sicht schien die Frage bereits hinreichend
beantwortet zu sein. Als – wenngleich quellenkritisch unreflektierte – Belege für
die allgemeine Kriegsbegeisterung galten die ikonenhaften Bilder von den Bahn-
höfen sowie jene von den Hauptstraßen der Großstädte („Unter den Linden“ in
Berlin, „Ringstraße“ in Wien, „Champs-Élysées“ in Paris). Des Weiteren schienen
die unzähligen Kriegsgedichte, die Spottreime („Serbien muss sterbien!“) sowie
die – zum Teil bis heute noch massiv überschätzte25 – Zahl der Kriegsfreiwilligen
die allgemeine Kriegsbegeisterung zu belegen. Als weiterer „Garant“ für das ver-
meintlich kriegsaffirmative „Gesamterlebnis“ zu Kriegsbeginn galt die Sitzung im
deutschen Reichstag am 4. August, in der die Sozialdemokratie einstimmig den
Kriegskrediten zustimmte. Fatal wirkte sich in dieser Hinsicht auch der Umstand
aus, dass man die Erwartungshorizonte und Stellungnahmen berühmter/vielfach
intellektueller Personen mit jenen der restlichen Bevölkerung gleichsetzte. Eine
weitere Verzerrung erhielt man durch den Rückgriff auf „zwischenkriegszeitliche“
Literatur aus der Feder von (männlichen) Politikern, Militärs und Schriftstellern.
Ergänzt wurde diese Verklärung durch das bewusste oder unbewusste Ausblenden
von Frauen und deren mannigfaltigen Erwartungshorizonten bzw. Erfahrungs-
räumen.26 Untermauert wurde diese Annahme auch durch die Tatsache, dass eine
Kriegsbegeisterung zu Ausbruch des Zweiten Weltkriegs größtenteils ausblieb.27
Das Bild von einer allgemeinen Kriegsbegeisterung änderte sich in den 1990er
Jahren, als sich die Zeitgeschichte im deutschsprachigen Raum intensiver der
Alltags-, Geschlechter- und Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs zuwandte.
Dazu zählt auch die damals im Steigen begriffene Anzahl an wissenschaftlichen
23 Wie z. B. die im Jahr 1973 erschienene Deduktionsstudie von: Kocka (21978).
24 Zu den Stärken (und Schwächen) der Historischen Sozialwissenschaft: Welskopp (1998).
25 Vgl. dazu den Lexikonartikel „Kriegsfreiwillige“ von Benjamin Ziemann in: Hirschfeld/Kru-
meich/Renz (22014), 639–640.
26 Begriffe nach Reinhart Koselleck (72010d).
27 Zur Historisierung der Kriegsbegeisterung siehe: Wirsching (2004), 188–194; Müller (2002), 58;
Geinitz (1998), 15–19.
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453