Seite - 29 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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professorinnen, Journalisten und Journalistinnen oder Künstler und Künstlerin-
nen.
Sechstens zeigen sich zum Teil massive Unterschiede zwischen den einzelnen
nationalen Zugehörigkeiten (= nationaler Faktor). Dieser Faktor kam in Frank-
reich und Deutschland weitaus weniger zum Tragen als in Großbritannien oder in
Österreich-Ungarn. Für Tirol arbeitete Oswald Überegger heraus, dass die Kriegs-
begeisterung im klassischen (d. h. im freudigen) Sinne in den deutschsprachigen
Gebieten höher als im weitgehend italienischsprachigen Trentino war.63 Zu einem
ähnlichen Ergebnis kommen Jan Galandauer und Martin Welling für Prag (Praha),
der Hauptstadt des Königreichs Böhmen.64 Dort beschränkte sich die Begeisterung
im freudig kriegschauvinistischen Sinne für gewöhnlich auf die „Deutschböhmen“,
während das tschechischsprachige Milieu auf den Kriegsbeginn hingegen meist
mit „Bestürzung, Fassungslosigkeit, Trauer, fatalistische[r] Resignation“ reagier-
te.65 Zudem waren die „patriotischen“ Umzüge und Kundgebungen nicht wie
lange angenommen eine Angelegenheit beider Milieus. Vielmehr waren sie „eine
Sache der Prager deutschen Minderheit“.66 Und in Lemberg (Lviv), der Hauptstadt
des Königreichs Galizien und Lodomerien, zeigte sich (wenn überhaupt) nur die
polnische Bevölkerung kriegseuphorisch.67 Dort war diese Euphorie aber keinem
habsburgischen Reichspatriotismus, sondern einem polnischen Nationalismus ge-
schuldet.68 An diesem Beispiel zeigt sich wiederum, dass es von einander abwei-
chende und zum Teil untereinander konkurrierende Gründe gab, weswegen man
begeistert sein konnte. In Lemberg (Lviv) entsprang die Begeisterung dem neuen
Erleben der eigenen, „alten“ nationalen Zugehörigkeit, was als solches zwar (noch
nicht) eine Abtrennung von Wien implizierte, sehr wohl aber weitere nationale
Abgrenzungsbemühungen stimulierte. Und diese Artikulationen widersprechen
dem Bild eines gesamtgesellschaftlichen Erlebnisses zu Kriegsbeginn.69
Siebtens unterlag das an und für sich kurze kriegseuphorische Stimmen- und
Stimmungsgeflecht der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen (= Zeitschichtenfak-
tor). Prinzipiell waren die Jubelstimmungen nur von kurzer Dauer, wobei die ein-
zelnen Auguststudien jeweils eigene Chronologien für ihre jeweiligen Forschungs-
räume vorlegten. So konnte zum Beispiel für Freiburg im Breisgau eine begrenzte
63 Überegger (2014) und (2007).
64 Galandauer (2005); Welling (2003).
65 Galandauer (2005), 328.
66 Ebd., 329.
67 Mick (2010), 69.
68 Ebd.
69 Vgl. dazu auch: Bruendel (2011), 37.
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453