Seite - 32 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Rahmenbedingungen32
front“ begann daher der vielschichtige Prozess der Desillusionierung vom ersten
Kriegstag an.82 Und er konnte nur dort einsetzen, wo man den Krieg überhaupt als
Chance83 wahrnahm. Aber auch hierbei gilt es festzuhalten, dass im Rahmen der
Selbstmobilisierung und des „Durchhaltens“ der Prozess der Desillusionierung
nicht kontinuierlich im Steigen begriffen war. Vielmehr ist von einem Gemisch aus
Zustimmung und Zwang auszugehen, das weder einen allgemeinen und in stetiger
Abnahme begriffenen Großvorrat an Kriegsbegeisterung noch ein gesamtgesell-
schaftliches und ständig steigendes Unmuts- und Desillusionierungsbecken kennt.
Aus meiner Sicht ist es daher nicht sinnvoll, alles „Negative“ im Grazer Alltag
von 1914 auf die eine Waagschale und alles „Positive“ auf die andere Waagschale
zu legen. Erstens entspräche ein derartiges Unterfangen einer Sisyphus-Arbeit.
Und zweitens würde man, meiner Einschätzung nach, dabei das Wesentliche aus
den Augen verlieren. Im Gegensatz zur Kriegsbegeisterung im klassisch freudigen
Sinne lassen sich nämlich die aus einer Not heraus entstandenen zweck- und auf-
gabengebundenen Einheitsbildungen der einzelnen Staaten vielfach nachweisen.
Diese hatten zum überwiegenden Teil aber nichts – weder in Frankreich noch in
Deutschland oder sonst wo – mit einer leichtfertigen Kriegsaffirmation zu tun.84
Abschließend gehe ich noch auf die Rezeption der Kriegsbegeisterung in der
„Zwischenkriegszeit“ ein. Der oftmals für die Kriegsbegeisterung synonym ver-
wendete Begriff „Augusterlebnis“ fungiert in der Augustforschung mehrheitlich
nicht mehr als analytischer Ausgangs- oder Fluchtpunkt. Der Containerbegriff
„Augusterlebnis“ ist zwar in der Forschung zum Ersten Weltkriegs bekannt, aber
bis dato weder klar noch konsensfähig abgesteckt. Streng begriffsgeschichtliche
Ansätze fehlen zur Gänze und auch in dieser Arbeit wird ein derartiges Unter-
fangen nicht unternommen. Die Augustforschung ist sich darüber uneinig, ob der
Begriff „Augusterlebnis“ aus der Kriegszeit stammt oder nicht. Grundsätzlich ging
man davon aus, dass es sich bei dem Begriff „Augusterlebnis“ um einen zeitgenös-
sischen Begriff handelte. Es finden sich daher einige fachliterarische Stellungnah-
82 Überegger (2014) und (2007).
83 Jeder der folgenden Topoi könnte problemlos unter „Anführungszeichen“ stehen: Krieg als Ini-
tiationsritus bzw. Prüfung/Bewährungsprobe, Krieg als Abenteuer, Krieg als Katharsis, Krieg als
Purifikation, Krieg als Korrektiv/Erneuerer, Krieg als Naturgesetz, Krieg als Kulturwert, Krieg als
Aufhebung oder Umkehr der Moderne, Krieg als Modernisierung, Krieg als Fortsetzung der Poli-
tik, Krieg als Ersatz der Politik, Krieg als Kampf ums Dasein, Krieg als Bringer eines andauernden
Friedens, Krieg als ultima ratio, Krieg als göttliches Strafgericht, Krieg als Glied in Gottes Welten-
ordnung, Krieg als Arbeit bzw. prestigeträchtiges Handwerk, Krieg als Mittel zur Integration und
Partizipation, Krieg als Steigerung bzw. Vervollkommnung des Lebens usw.
84 Hirschfeld/Krumeich (2010).
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453