Seite - 34 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Rahmenbedingungen34
Während man bereits den Burgfrieden, die Union sacrée, den holy truce (bzw.
die truce policy) methodisch kontrolliert verglich92, herrscht über etwaige Ge-
meinsamkeiten und Unterschiede zwischen dem deutschen „Augusterlebnis“, dem
englischen „August Festival“93 (oder „August enthusiasm“94), dem französischen
„août 1914“ oder dem italienischen „maggio radioso“ („strahlender Mai“ 1915)
noch weitgehend Unklarheit. Einen ersten eingehenden Vergleich zwischen der
deutschen und der französischen Formel unternahm Thomas Raithel. Dabei kam
er zu dem Ergebnis, dass die französische Formel „insgesamt weniger positiv be-
setzt“ war als die deutsche Formel und dass diese auch andere Implikationen nach
sich zog.95 Im nachkriegszeitlichen Deutschland – einem der „Verliererstaaten“ –
fungierte für weite Teile des Bürgertums das „Augusterlebnis“ sowie das verklärte
„Kriegserlebnis“ und die „Kameradschaft“ in vielerlei Hinsicht als Legitimations-
und Erinnerungsbaustein für die oftmals artikulierte „Volksgemeinschaft“, die spä-
ter von der NS-Ideologie massiv instrumentalisiert wurde.96
Aus heutiger Sicht spricht vieles dafür, dass die unterschiedlichen Erlebnisse
und Erfahrungen zu Kriegsbeginn (Juli- und Augusterlebnisse) bereits während
des Ersten Weltkriegs zu einem in Stadt und Land gleichermaßen und ohne Unter-
schied der Milieus gefühlten „Gesamterlebnis“ idealisiert wurden.97 Mit steigender
Erfahrung der völligen Unvereinbarkeit der verschiedenen Kriegsziele innerhalb
eines kriegführenden Staats wurde dieses verzerrte „Gesamterlebnis“ gegen die
vielschichtige und vielseitige innerstaatliche Opposition artikuliert. Dieser Pro-
zess – für Gunther Mai zu Recht ein politischer Mythos98 – riss nach dem Ersten
92 Sie unterscheiden sich voneinander hinsichtlich ihrer Ausrichtung (nach innen), ihrer Verbrei-
tung sowie hinsichtlich ihrer Wirkmächtigkeit. Obendrein veränderten sie sich selbst mit der
Zeit. Siehe dazu z. B. Pyta/Kretschmann (2011). Eingehende deutschsprachige Analysen über
den losen russischen „Burgfrieden“ („Wnutrenni mir“) fehlen meines Wissens nach bis dato.
Ebenso gibt es nur wenige Publikationen, die sich dem „Osmanismus“ und dem anders gelager-
ten Dschihad (gegen Frankreich, Großbritannien und Russland) widmen. Zum Dschihad vgl.
insbesondere den Sammelband: Loth/Hanisch (2014). Zu den unterschiedlichen „hl. Kriegen“
ebenso: Goebel (2007).
93 Begriff nach Robert Rutherdale (1996), 221–249.
94 Begriff nach Hartmut Pogge von Strandmann (2011), 59.
95 Raithel (1997), 59.
96 Speziell zur Aufnahme des „Augusterlebnisses“ zur Zeit des Nationalsozialismus: Krumeich
(2010); Arning (2008), 235–269; Beck (2003), 282. Zur NS-„Volksgemeinschaft“ vgl. den Sam-
melband von: Reeken/Thießen (2013).
97 Steffen Bruendel arbeitete in mehreren Studien den Zusammenhang zwischen dem „Auguster-
lebnis“ und dem Burgfrieden im weiteren Verlauf des Kriegs heraus.
98 Definition nach Gunther Mai (2004), 179: „Politische Mythen sind ordnende Interpretationen
von Erfahrungen und des Daseins, deren Komplexität sie auf Urbilder, Metaphern oder Stereo-
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453