Seite - 38 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Rahmenbedingungen38
dass die Quellen uns nur auf rekursivem Wege schildern, was nicht passierte, sie
sagen uns aber nicht, was denn nun eigentlich geschah. Die Quelleninterpretation
fußt sonach auf der Annahme, dass aufgrund gewisser Interpretationsrestriktio-
nen nicht unendlich viele bzw. unendlich viele plausible Interpretationen möglich
(im Sinne von erlaubt) sind.108 Die Quellen schreiben nicht eindeutig vor, was wir
sagen sollten, noch sind sie bezüglich „ihrer“ Aussagekraft vollkommen offen, da
sie diverse Interpretationsspielräume sowohl ermutigen als auch entmutigen kön-
nen.109 Das Vorliegende präsentiert sich somit als eine kontrollierte Dichtung110,
in der sich Kontrolle und Narrativität (ein Scheinpaar) gegenseitig bedingen und
stabilisieren.111
Das führt zu dem Dilemma, dass ich eine geschichtswissenschaftliche Form von
quellengestützter Wirklichkeit kreiere, die vermeintlich hinter den Quellen liegt,
die aber nicht mit den eigentlichen Erfahrungsräumen und Erwartungshorizonten
der Grazerinnen und Grazer zu Kriegsbeginn 1914 ident ist (ident sein kann).
Da ich aber Quellen nicht nur um ihrer selbst Willen interpretiere, sondern sie
auch für meine Geschichtserzählungen benötige112, ist meine Arbeit – wie viele
Geschichtsbücher – durchzogen von Sätzen, die sinnbildlich im historischen bzw.
geschichtswissenschaftlichen Indikativ stehen. Erkenntlich wird dies in jenen Sät-
zen, die in ihrer Grundstruktur folgendermaßen angelegt sind:
Es war einmal ...
Es war einmal auf den Grazer Straßen ...
Man wird sich daher nicht dem Eindruck entziehen können, dass es gerade die
Sprache der vorliegenden Geschichte ist, die letztendlich dafür sorgt, dass sich die
hier erzählten Ereignisse authentisch präsentieren. Mit anderen Worten: Das Dar-
gestellte suggeriert durch die Darstellung, dass es keine Darstellung sei, sondern
es gibt mittels der Darstellung vor, vermeintlich authentisches Wissen „aus“ der
Quellenbefundes schlichtweg als falsch oder als nicht zulässig durchschaut werden können. Fal-
sche Daten, falsche Zahlreihen, falsche Motiverklärungen, falsche Bewußtseinsanalysen: all das
und vieles mehr läßt sich durch Quellenkritik aufdecken. Quellen schützen uns vor Irrtürmern,
nicht aber sagen sie uns, was wir sagen sollen.“
108 Eco (1992).
109 Ebd.
110 Begriff nach Wolfgang Schadewaldt (31990), 219: „Mittel einer kontrollierten Dichtung“.
111 Zu den geschichtswissenschaftlichen Erzählformen: Eckel (2007), des Weiteren: Pohlig (2008).
112 Zur nicht astreinen, aber für mich durchaus akzeptablen Unterscheidung zwischen dem Ge-
brauch und der Interpretation von Quellen: Eco (1992), 26–55.
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453