Seite - 50 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Rahmenbedingungen50
– Gründe resultiert zweifelsohne aus der Wahl des kurzen Beobachtungsraumes.
Dieser erwies sich zwar, wenn es um das Verhindern teleologischer Erklärungen
geht als äußerst hilfreich, aber er verwehrte mir den Blick auf mittel- und lang-
fristige Veränderungen. Meine hier erarbeiteten Alltagsmomente (Gelegenheits-
strukturen) müssen aber in mittel- und langfristige Prozesse eingebettet werden,
denn ansonsten würde die Mikrohistorie in der Luft hängen.163 Bewerkstelligt
wurde dieses Einordnen mittels eines Rückgriffs auf vier fachliterarische Leitpa-
noramen.164 Im Zuge des offenen Blicks unterließ ich eine idealtypische oder sonst
irgendwie im Vorfeld konzipierte Definition des Burgfriedens, die zum Beispiel
folgendermaßen hätte lauten können: Unter „Burgfrieden“ verstehe ich die tem-
poräre Reduktion gesellschaftlicher Konflikte. Oder: Unter „Burgfrieden“ verstehe
ich die temporäre Suspension parteipolitischer Konflikte. Oder: Unter „Burgfrie-
den“ verstehe ich die Duldung des staatlichen „Kriegsabsolutismus“. Dasselbe gilt
für den Begriff „Kriegsbegeisterung“, der von mir nicht a priori definiert wird.
Ebenso wenig stelle ich im Vorfeld ein gesellschaftliches Gruppenbildungsmo-
dell auf, das auf die Grazer Strukturen um 1914 zugeschnitten ist, und das ich
dann mithilfe von Hypothesen und Quellen teste, um eine Abstandsmessung
vornehmen zu können.165 Mir ging es primär darum, quellennah entlang zweier
Fragenbereiche – dem Kriegsausbruch/Kriegseinbruch (1) und der Einheitsbil-
dung (2) – das damalige gesellschaftliche Zusammen- und Auseinandergehen in
Graz zu verstehen/erklären. Dieses Anliegen muss zwangsläufig den Transforma-
tionsprozess von einer graduell militarisierten Friedensgesellschaft hin zu einer
Gesellschaft im Krieg (nicht zu einer integrativen „Kriegsgemeinschaft“) berück-
sichtigen. Ich schaue dabei nicht nur auf die zentrifugalen Gesellschaftsmomente,
sondern auch auf das zentripetal Wirkende (d. h. auf das Zusammenführen, das
Zusammen-Sein, das Zusammenhalten).
Sechster Methodenstrang: In Graz gab es drei „Seilschaften“ unter den Zeitun-
gen. Das Nahverhältnis zwischen der Mittags-Zeitung166, der (wöchentlich er-
scheinenden) Deutschen Zeitung167 und der (wöchentlich erscheinenden) Grazer
nachgehen (Siehe das Kapitel: Abschiedsszenen). Ebenso verwehrt die Quellenlage eine Analyse
und Illustrierung individueller Gegebenheiten.
163 Zum Hintergrund vgl. den Text „Vom Besonderen zum Allgemeinen? Die Fallstudie als ge-
schichtstheoretisches Problem“ von: Pohlig (2013).
164 Siehe das Kapitel: Vier Leitpanoramen.
165 Beispielgebend für diesen Weg ist die Studie von: Kocka (21978).
166 Die kleinformatige, kurzlebige und deutschnationale Grazer Mittags-Zeitung (1914–1921) er-
schien am 19. August 1914 zum ersten Mal, vgl. Thonhofer (2013).
167 Organ des (österreichischen) Deutschen Zentrums.
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453