Seite - 51 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Vorortezeitung168 manifestierte sich mitunter im gegenseitigen „Zuschieben“ von
redaktionsproduzierten Artikeln.169 Ein ähnliches und der Forschung seit gerau-
mer Zeit bekanntes Nahverhältnis zeigt sich zwischen dem Grazer Volksblatt, der
Kleinen Zeitung sowie dem Sonntagsboten.170 Ebenso standen sich die Tagespost
und die Grazer Montags-Zeitung nahe. Diese Verstrickungen erkennt man zudem
in ihrem augenfälligen „Austauschen“ von Artikeln. Dieser „Artikelklau“ wurde
aber auch von den anderen Redaktionen betriebenen. Die von anderswo über-
nommenen Artikel wurden meistens unkommentiert neuabgedruckt.171 Oft kam
es dabei zu leichten Textveränderungen, die aber nicht sonderlich den Sinn des
Artikelinhaltes entstellten. Andere Übernahmen von redaktionsfremden Artikeln
gestalteten sich dagegen weitaus gravierender. So postulierte beispielsweise das
Volksblatt mehrmals, dass alle Menschen auf den Straßen nur das Volksblatt lesen
würden. Die Kleine Zeitung übernahm diese Artikel nahezu identisch, nur dass
sie statt „Volksblatt“ eben „Kleine Zeitung“ schrieb.172 Wenngleich diese bewusste
Werbung die Nagelprobe im Alltag nicht bestehen konnte, deuten sich hier erste
Problemstellungen für die Quellenlektüre an, die im Text weiter ausgeführt wer-
den.
Siebter Methodenstrang: Die zeitgenössischen Begriffe „Hysterie“, „Panik“,
„Manie“, „Ekstase“, „Furor“ und „Psychose“ durchziehen teilweise die August-
forschung. Diese Wörter inklusive ihrer Abwandlungen wurden in meiner Arbeit
aber als Analyse- und/oder Beschreibungskategorien fallen gelassen. Der Be-
griff „Hysterie“ (griech. hystéra = Gebärmutter) rekurrierte aus etymologischer
Sicht auf „das“ weibliche Geschlecht und war negativ konnotiert.173 Das zeitge-
nössisch misogyne Paradebeispiel hierfür ist die Rede von den „hysterische[n]
Weiber[n]“.174 Heutzutage ist die „Hysterie“ im nosologischen Sinne überholt bzw.
obsolet und wurde sogar von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in ihrem
Klassifikationssystem ICD-10 (seit 1991) gestrichen.175 Die Begriffe „Panik“ und
168 Organ für die Umgebungsgemeinden von Graz.
169 Ich meine hier daher nicht die Meldungen von Depeschen- und Korrespondenzbureaus.
170 Der Sonntagsbote war das Organ des – sich in weitere Regionalvereine unterteilenden – katholi-
schen Bauernvereins für Mittel- und Obersteiermark (sprich die heutige Steiermark).
171 In meiner Arbeit werden derartige Parallelberichterstattungen teilweise durch „Vgl. parallel“ aus-
gewiesen. Das gilt vor allem für die Kleine Zeitung.
172 Vgl. z. B. Das Stimmungsbild in Graz, in: Grazer Volksblatt, 27.7.1914 (Abendausgabe), 1. Vgl.
parallel: Begeisterte Stimmung in Graz, in: Kleine Zeitung, 28.7.1914, 6.
173 Ein Abriss über die „Hysterie“ in: Siefert (2005).
174 Das beispielhaft angeführte Direktzitat aus: Zur Eherechtsreform, in: Arbeiterwille, 13.3.1906, 7.
175 ICD steht für: Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesund-
heitsprobleme. Der Paradigmenwechsel in puncto „Hysterie“ ging u. a. auf den Psychiater und
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453