Seite - 66 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Rahmenbedingungen66
Bevölkerung auf den Kriegsbeginn sowie prinzipiell mit dem (nie enden wollen-
den) Errichten der Grazer „Einheit“. Im Vordergrund stehen hier der Andrang
auf die Geldinstitute, die Hamsterkäufe, das Horten von Münzen, die Vorgänge
am Grazer Versatzamt, die vollbesetzten Kinos und Sakralbauten, die langen War-
teschlangen vor den Postschaltern, der Andrang auf das Arbeitsvermittlungsamt,
der Andrang auf die Pfadfinderkanzlei oder die Ausschreitungen auf der Straße.
Auch hier zeigen sich städtische Konflikt- und Zusammenhaltpotentiale. Die Be-
völkerung transformierte sich aufgrund vieler kleinerer und größerer Burgfrie-
densschlüsse und -brüche aber zu keiner integrativen „Kriegsgemeinschaft“ und
schon gar nicht zu einer „Volksgemeinschaft“. Vielmehr überformten und erodier-
ten die Erschwernisse des Kriegs die zivilgesellschaftlichen Bindungen.254 Schließ-
lich beeinträchtigten die durch den Krieg erst entstandenen oder durch diesen sich
verschärfenden Konfliktlinien zwischen den Milieus und anderen Gruppen unver-
kennbar und nachhaltig die soziale Kohäsion. Die Mikrohistorie endet mit einer
mehrteiligen Schlussbetrachtung, deren letztes Kapitel die reguläre Zusammen-
fassung darstellt. In den vorangegangenen Kapiteln fasse ich die aus meiner Sicht
wesentlichen Züge des Grazer Alltags zu Kriegsbeginn zusammen und stelle sie in
Bezug zu einigen theoretischen Überlegungen von Bernd Hüppauf. Dadurch wird
eine (weitere) Abstraktionsebene geschaffen, die ich in Anlehnung an Hüppauf
mit dem Begriff „Stadtliniengewirr“ bezeichne.255 Dieses im Nachhinein erstellte
Konzept bündelt meines Erachtens die Antworten auf die beiden Fragenbereiche –
Kriegsausbruch/Kriegseinbruch (1) und Einheitsbildung (2) – in prägnanter Wei-
se.256 Im Wesentlichen bezeichnet der Begriff „Stadtliniengewirr“ den Umstand,
dass in Graz die kleineren und größeren Fronten zwischen diversen Gruppen quer
durch die ganze Stadt verliefen. Das erscheint mir rückwirkend deswegen als so
wichtig, weil das tägliche Fragen und Abschätzen, wer ein Freund und wer ein
Feind ist, wo die (innerstädtische) Front verlauft und wo nicht, einen (!) integralen
Bestandteil und ein maßgebliches Erschwernis der damaligen Alltagsbewältigung
darstellten. Es zeigte sich nämlich im Laufe der Quellenrecherche, dass sämtliche
Alltagserscheinungen von unterschiedlichen Seiten auf ihre „Einheitstauglich-
keit“ geprüft wurden. Nicht alle bestanden die sogenannte Einheitsprüfung. Und
254 Vgl. dazu auch: Ziemann (2013), 8.
255 Der Titel meiner ungedruckten Dissertation lautete: Ein Stadtliniengewirr – Grazer Alltagsmo-
mente zu Kriegsbeginn 1914.
256 Neben den Arbeiten von Bernd Hüppauf regten mich auch die Governmentality & Surveillance
Studies (also schnell formuliert die sogenannten Macht- und Überwachungsstudien) an, vgl.
exemplarisch: Gertenbach (2012); Hempel (2012). Ich schreibe aber keine Governmentality &
Surveillance Study.
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453