Seite - 80 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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| Sarajevoer Attentat und
Graz80
der neu noch originell. Vielmehr war sie einem altbekannten Stilmittel geschul-
det. Die zeitgenössische Rede von der „Kriegsbegeisterung“ 1914 stellte nämlich
– schnell formuliert – eines von vielen „vormodernen“, besser gesagt altbewährten
Ausdrucksformen dar, die sich nach dem Krieg nur mehr in den pointiert po-
litisch grundierten, aber ernstzunehmenden Kriegserinnerungen widerspiegeln.
Aus meiner Sicht ist es nicht sonderlich ratsam, wenn man sich dem Kriegsbeginn
1914 ohne Vergewisserung der zeitgenössischen Politsprache nähert. Gewisserma-
ßen handelt es sich hierbei um einen Fehler, den ich selbst beging. Greift man ohne
Vorwissen zu den Grazer Zeitungsquellen von 1914, versetzt es einen (vermutlich)
in Staunen, wie oft der Begriff „Begeisterung“ anzutreffen ist („todesmutige Be-
geisterung“, „patriotischen Begeisterung“, „edler Begeisterung“, „begeisterte Ent-
schlossenheit“, „flammende Begeisterung“, „vaterländischen und völkischen Be-
geisterung“, „herrschende Vaterlandsbegeisterung“ oder „heilige Begeisterung“).53
Es zeigt sich dabei immer wieder, dass bereits in den ersten Kriegswochen von
einander abweichende Deutungen über etwaige Haltungen der Grazer Bevölke-
rung zirkulierten:
„Zum ersten Mal führt Österreich einen großen Krieg im Zeichen der allgemeinen
Wehrpflicht, einen Krieg, der kaum eine Familie im weiten Reiche unberührt läßt. Und
zum Staunen selbst der Hoffnungsvollsten zeigt es sich, daß die Begeisterung fast überall
gleich, die Opferfähigkeit fast überall schier grenzenlos ist. […] In der Bevölkerung aber
verschwinden alle Gegensätze, die noch vor wenigen Tagen geherrscht haben mögen,
vor der großen Aufgabe, die allen die nächste Stunde bringt.“54
Das Wort „Begeisterung“ war zu Kriegsbeginn 1914 omnipräsent. Mit Abstand
seltener anzutreffen ist der Begriff „Kriegsbegeisterung“ und selten stößt man auf
den Begriff „Burgfrieden“. Das bedeutet nicht, dass es derartige Phänomene nicht
gab, aber es legt den Schluss nahe, dass die zeitgenössischen Meinungsanbieter in
Graz andere Begriffe und Beschreibungen dafür wählten. Den einzelnen Hand-
habungen, wie man „Einheit“ lebte (und leben sollte), werde ich im Verlauf der
Arbeit nachgehen, weil es mir darum geht, wie die journalistischen Zeitgenossen
53 Die Zitate stammen aus: Vor dem Krieg!, in: Grazer Tagblatt, 26.7.1914, 1; In Obersteiermark,
in: Grazer Volksblatt, 27.7.1914 (Sonderausgabe), 3; Krieg!, in: Steiermärkisches Gewerbeblatt,
1.8.1914, 1; Die Slawen Österreichs in der großen Zeit, in: Tagespost, 15.8.1914, 1; Der Kaiser
rief, und alle, alle kamen, in: Grazer Tagblatt, 18.8.1914, 1; Nachrichten des rechten Murufers,
in: Grazer Kirchenbote, 1.9.1914, 73; Die Kriegshetze des „Grazer Volksblattes“, in: Deutsche
Zeitung, 16.8.1914, 5; Im Zeichen des Krieges, in: Grazer Vorortezeitung, 16.8.1914, 1.
54 Vorwärts, in: Grazer Montags-Zeitung, 3.8.1914, [ohne Seitenangabe].
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453