Seite - 86 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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| Sarajevoer Attentat und
Graz86
26. Juni zwei Großveranstaltungen in der Grazer Industriehalle ab, wo unter ande-
rem Michael Schacherl, Josef Pongratz, Alois Ausobsky und Vinzenz Muchitsch als
Redner auftraten.77 An beiden Abenden legten die Redner den Anwesenden nahe,
gleich nach der Veranstaltung nach Hause zu gehen. Man erhoffte sich davon, etwa-
igen Ausschreitungen zwischen der Arbeiterschaft und den Behörden vorbeugen zu
können. Letztendlich verliefen beide Abende friedlich, was sich auch daran zeigt,
dass die für 26. Juni von den Grazer Behörden präventiv angeforderte Verstärkung
von rund 1.000 Mann nicht ausrückte.78 Dem Arbeiterwillen zufolge nahmen an
der ersten Veranstaltung rund 6.000 Personen, an der zweiten Versammlung rund
10.000 Personen teil.79 Ob die angegebenen Zahlen der Realität entsprachen, ist
fraglich, aber nicht per se strittig. Selbst dann nicht, wenn die gegnerischen Redak-
tionen, wie zum Beispiel das radikal deutschnationale Tagblatt, die betreffenden
Publikumszahlen deutlich nach unten drückten.80 Die Untermauerung der eigenen
Politik mittels übertriebener Angaben von Teilnehmerzahlen praktizierte man da-
mals wie heute. Augenfällig zeigten sich derartige parteikonforme Zweckbehaup-
tungen einige Wochen später, als die Grazer Redaktionen ihre Zahlenangaben be-
züglich der vielseitigen Menschenansammlungen von Ende Juli und Anfang August
entweder zu hoch oder zu niedrig ansetzten. Sieht man von den beiden Großveran-
staltungen der Grazer Sozialdemokratie ab, kündigte sie auch im Juni 1914 anläss-
lich des 45-jährigen Bestehens der steirischen Arbeiterbewegung sowie des 25-jäh-
rigen Bestehens der Parteizeitung ein großes Parteifest für den 14. und 15. August
in der Industriehalle an.81 Beide Jubiläen waren bereits Thema und Bestandteil der
sozialdemokratischen Feiern zum 1.
Mai.82 Das vorläufige Programm dieses Partei-
festes beinhaltete unter anderem Reden führender Sozialdemokraten Europas:
Emile Vandervelde, Karl Liebknecht, Gustav Noske, Valentino Pittoni und Karl
77 Die Ankündigungen, die Programmabläufe sowie die Endberichte lassen sich den Leitartikeln
des Arbeiterwillens entnehmen.
78 Moll (2007a), 188 f.
79 Die Massenkundgebung der Grazer Bevölkerung gegen Bürgerklub und Statthalter, in: Arbeiter-
wille, 24.6.1914, 1; Die Demonstration der Grazer Arbeiter, in: Arbeiterwille, 28.6.1914, 1. Die
Wahlkampfveranstaltung vom 26. Juni übertraf die Größe der sozialdemokratischen Veranstal-
tungen (inkl. der Feiern zum 1.
Mai) der letzten Jahre. Nur die großflächige Arbeitsniederlegung
von 1905, die man im Zuge der (mehrjährigen) Debatte hinsichtlich der Einführung des allge-
meinen Männerwahlrechts auf Reichsebene (letztendlich 1907) vollzog, hatte dem Arbeiterwil-
len zufolge ähnliche Zahlen hervorgebracht.
80 Vgl. z. B. Nach der Auflösung, in: Grazer Tagblatt, 25.6.1914 (Abendausgabe), 1.
81 Das Parteijubiläum in Graz am 15. August 1914, in: Arbeiterwille, 27.6.1914, 1.
82 Siehe den Arbeiterwillen vom 1. bis 3. Mai 1914, beispielsweise: 25 Jahre Maifeier, in: Arbeiter-
wille, 3.4.1914, 8.
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453