Seite - 96 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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| Sarajevoer Attentat und
Graz96
listischen Absichten leichter [e]rreichen zu können.“130 Eine tatkräftige Unterstüt-
zung vonseiten der Dynastie und ihrem (damaligen) Thronfolger Franz Ferdinand
erwartete sich vor allem die radikal deutschnationale und alldeutsche Grazer
Presse daher nicht mehr, weswegen sie ununterbrochen das „Ministerium Stürgkh“
attackierte. Die Regierung war in ihren Augen im Normalfall planlos, ratlos und
tatenlos. Eine der wenigen Ausnahme stellte der (deutschnationale) k. k. Justizmi-
nister Victor von Hochenburger dar. Dieser war quasi die letzte „deutsche Fahne“131
der Regierung. In den Wochen vor dem Sarajevoer Attentat sahen die Deutschna-
tionalen die politische Schwäche des eigenen Staats vor allem in der Auseinander-
setzung rund um die (aus ihrer Sicht) von Serbien hartnäckig angestrebte Verstaat-
lichung der Orientbahn.132 Das Tagblatt, welches das Ansehen der Monarchie am
Boden liegen sah, fragte bezüglich der Orientbahn im Mai 1914 süffisant: „Und
wenn wir jetzt wieder einmal – wir, die Großmacht! – Serbien gegenüber nachge-
ben, was macht das aus?“133 Die Regierung war in den Augen der deutschnationa-
len Blätter seit längerer Zeit fahrlässig: „Aus diesem bestialischen Morde [in Sara-
jevo] geht deutlich hervor, wie weit die von den südslawischen Irredentisten eifrigst
genährte und von der österreichischen Regierung blindlings geduldete, ja sogar
unterstützte großserbische Propaganda in den südlichen Ländern unserer Monar-
chie gediehen ist, [...].“134 Allen Warnungen zum Trotz – so der Artikel vom 7. Juli
– „schlief unsere Regierung einen sorgenlosen Schlaf, alle Versuche, sie aufzuwe-
cken und zum energischen Handeln aufzurütteln, blieben erfolglos und es er-
scheint uns daher nicht unbegreiflich, daß bei der Sorglosigkeit und Leichtgläubig-
keit unserer Staatslenker gegenüber den einschläfernden Einflüsterungen der
südslawischen Parteiführer ein so abscheuliches und verdammenswertes Attentat
ausgeführt werden konnte.“ Das Grazer Wochenblatt, das Sprachrohr der steiri-
schen Alldeutschen, polemisierte ebenso scharf. Regelmäßig attackierte es die Re-
gierung, die anderen Parteien und Milieus sowie prinzipiell den Staat. Ende Juli
1914 konnte man auf seiner Titelseite Folgendes lesen:
130 Ebd.
131 Der Justizminister und die Deutschen, in: Grazer Tagblatt, 22.7.1914, 1. Die Rede von der letzten
„deutschen Fahne“ stammte nicht vom Tagblatt selbst, sondern vom (cisleithanischen) Reichs-
ratsabgeordneten Ernst Viktor Zenker (1865–1946). Der Artikel griff das Bild von der letzten
„deutschen Fahne“ zustimmend auf, polemisierte aber gegen Zenker.
132 Zum Hintergrund vgl. die Masterarbeit von: Smoliner (2015).
133 Wir, die Orientbahnen und Serbien, in: Grazer Tagblatt, 21.5.1914, 1.
134 Die südslawische Bewegung unter der Mittelschuljugend, in: Grazer Tagblatt, 2.7.1914, 1.
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453