Seite - 100 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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| Sarajevoer Attentat und
Graz100
infolge des gemeinsamen Ministerrats (7. Juli), befriedigten nur für kurze Zeit die
Redaktionen.146 Das hatte seine Gründe. Ein Gutteil der publizistischen Auseinan-
dersetzungen im Juli resultierte aus der spärlichen und teilweise irritierenden Mel-
dungslage. Den Grazer Tageszeitungen blieb wie den anderen Zeitungen der Mon-
archie auch ein Blick hinter die Kulissen der diplomatischen Julikrise verwehrt. Sie
konnten allenfalls gemäß ihrem jeweiligen Wissenshorizonten die neue Lage kom-
mentieren. Das ihr dafür zur Verfügung stehende Wissensreservoir beschränkte
sich daher weitgehend auf die Erfahrungen und „Lehren“ aus vorangegangenen
diplomatischen Krisen, die Einschätzungen anderer Zeitungen aus dem In- und
Ausland, diversen Treffen sowie die wenigen und unpräzisen Stellungnahmen
der (verbliebenen) Politiker. Fatal wirkte sich diesbezüglich die Gerüchteküche
im Hinblick auf einen angeblich bevorstehenden Schritt gegen Belgrad (Beograd)
aus. Unmittelbar nach dem mit Spannung erwarteten gemeinsamen Ministerrat
(7. Juli) kursierte das Gerücht, dass die Monarchie einen drastischen Schritt ge-
gen Serbien beabsichtige. Dass dem tatsächlich so war, sei dahingestellt, denn von
offizieller Seite wurde vehement bestritten, dass an diesem besagten 7. Juli irgend-
welche entscheidenden Schritte gegen Serbien beschlossen worden seien. Günther
Kronenbitter, profunder Kenner der diplomatischen Julikrise „aus“ österreichisch-
ungarischer Sicht, schreibt dazu treffend: „Was eigentlich ein streng gehütetes Ge-
heimnis bleiben sollte, um den politisch erwünschten und militärisch nützlichen
Überraschungseffekt nicht zu gefährden, ließ sich also doch nicht verbergen.“147
Und so zirkulierte auch in den Grazer Tageszeitungen die Vorstellung, dass eine
Demarche gegen Serbien in Planung sei, über deren Inhalt man nur Vermutun-
gen anstellen konnte. Zwar wurde von Leopold Berchtold (Außenminister) und
Leon von Bilińsiki (gemeinsamer Finanzminister) in offiziellen Stellungnahmen
bestritten, dass eine gegen Serbien gerichtete Demarche im Raum stand, aber ihre
Dementis trugen nicht mehr zur Entspannung der Lage bei. Vielmehr verschärfte
sich die Lage, zumal weitere Unklarheiten ans Licht kamen und weitere Dementis
ausgesprochen werden mussten. Und so hieß es an dem einen Tag, es werde eine
Demarche kommen, und an dem anderen Tag wieder, dass es keine Demarche148
geben werde (Von den Überlegungen, wie diese aussehen könnte und vom wem
sie ausgehen werde, ganz zu schweigen). Wem und was man in diesen Tagen noch
glauben konnte, stand somit stets auf wackeligen Füßen. Die Ungewissheit bezüg-
lich der weiteren politischen Schritte mündete in einer Kritik an der amtlichen In-
146 Der gemeinsame Ministerrat, in: Arbeiterwille, 9.7.1914, 2.
147 Kronenbitter (2003a), 480.
148 Keine Demarche?, in: Arbeiterwille, 14.7.1914, 9.
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453