Seite - 107 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ | 107
Während in allen anderen „Kulturstaaten“ Europas die jeweilige Legislative178
über Krieg und Frieden „entscheiden“ durfte, blieb aus Sicht des Arbeiterwillens
der österreichischen Sozialdemokratie ein plebiszitär legitimierter Krieg verwehrt.
In Cisleithanien würden demzufolge die gleichen Verhältnisse wie im „Hort der
Reaktion“ herrschen.179 Denn in „Österreich“ – so stand es auf einer Titelseite mit
großen Buchstaben – kam es zum „Kriegskredit mittels einer §-14-Verordnung“180,
was im Blattinneren nochmals mit Verweis auf die Wiener Zeitung (Wien) auf-
gegriffen wurde.181 Diesen Umstand empfand der Arbeiterwille offenkundig als
Demütigung und Ungerechtigkeit, zumal er seit Anfang August entlang des nor-
mativen Leitspruchs „Das Vaterland wird in diesen ernsten Zeiten nicht in Stich
gelassen!“ seine „Oppositionsrolle“ einstellte. Als zweiter außenpolitischer Leit-
spruch fungierte unverkennbar: „Nieder mit dem Zarentum!“ Darüber hinaus
bekräftigte der Arbeiterwille, nachdem die den Weltkrieg formal besiegelnden
Kriegserklärungen ausgesprochen wurden, mehrmals, dass die Sozialdemokratie
im Falle einer Abstimmung für den Krieg gestimmt hätte.182 Immerhin stimmte die
Sozialdemokratie ja auch dem Kriegsleistungsgesetz (1912) zu. Außerdem, so ein
weiteres Argument, sagte selbst August Bebel (1840–1913), einer der Begründer
der deutschen Sozialdemokratie, dass er zur „Flinte“ greifen würde, wenn man
einen Krieg „gegen die zarische Barbarei“ führen müsste.183 Der vom Arbeiterwil-
len im ersten Kriegsjahr mehrmals geäußerte Unmut über die Nichteinberufung
des cisleithanischen Reichsrats war keine Neuerscheinung. Dem Artikel des Ar-
beiterwillens mit der bezeichnenden Schlagzeile „Die ungarisch-österreichische
Monarchie“ vom 23. Juli zufolge hätten der cisleithanische Ministerpräsident und
der k. k. Justizminister Victor von Hochenburger das österreichische Parlament
„glücklich an die Wand gedrückt“.184 Dies bedeutete für den Arbeiterwillen, dass
„in dieser Stunde, wo ein immerhin ernster Schritt unternommen wird, die Völker
Österreichs nicht einmal eine Tribüne haben, wo sie ihre Meinung zum Ausdru-
178 Die Legislative Großbritanniens, Frankreichs, Deutschlands, Ungarns, Serbiens, Belgiens usw.
179 Den Grazer Tageszeitungen blieb die Kunde verwehrt, dass die russischen „Sozialdemokraten“
am 26.
Juli 1914 in der Duma gegen etwaige Kriegskredite stimmten. Vgl. auch: Leonhard (2014),
209.
180 Kriegskredit mittels einer §-14-Verordnung, in: Arbeiterwille, 7.8.1914 (Abendausgabe), 1.
181 Ein Kriegskredit, in: Arbeiterwille, 7.8.1914 (Abendausgabe), 2.
182 Die Arbeiterinternationale und der Krieg, in: Arbeiterwille, 19.8.1914 (Abendausgabe), 3: „Die
deutschen Sozialdemokraten haben für die Kriegskredite gestimmt, und die Österreicher hätten
dafür gestimmt, wenn man das Parlament gefragt hätte.“
183 Das berühmte Bebel-Argument fand sich z. B. in dem Artikel: Die Sozialdemokratie und der
Krieg, in: Arbeiterwille, 26.9.1914, 1.
184 Die ungarisch-österreichische Monarchie, in: Arbeiterwille, 23.7.1914, 1.
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453