Seite - 109 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ | 109
und endgültig handeln müsse, wenn er „überleben“ wolle, hegte sich in der bür-
gerlichen Grazer Presse seit Mitte Juli auch der Wunsch nach einer „Strafexpe-
dition“, die als solche aber keine längerfristigen territorialen Konsequenzen, wie
zum Beispiel eine Annexion, kannte.190 Schließlich hätte eine solche den Anteil der
„Slawen“ in der Monarchie erhöht, was wiederum eine Machtreduktion der „Deut-
schen“ innerhalb des parlamentarischen Handlungsspielraums zur Folge gehabt
hätte. Es ging daher „nur“ um ein scharf geführtes militärisches Zurechtweisen:
demnach durch einen feldzugartigen Krieg ohne Ambition zur territorialen Ex-
pansion. Diesbezüglich kann gesagt werden, dass tatsächlich keiner der Kriegs-
staaten zu Kriegsbeginn über längerfristige Kriegsziele, geschweige denn territori-
ale Expansionspläne verfügte.191 Auch die habsburgische Politik legte im Sommer
1914 keine offiziellen Kriegsziele vor.192 An dem Wunsch nach einer „Strafexpe-
dition“ lässt sich augenfällig die hohe Kriegsbereitschaft der bürgerlichen Grazer
Presse festmachen. Zwar konnte Serbien erst vor Kurzem durch den Frieden von
Bukarest sein Territorium knapp verdoppeln193, sei aber der Presse zufolge im Ver-
gleich zu Österreich-Ungarn dennoch als rückständiger „kleine[r] Balkanstaat“194
zu betrachten. Dabei empfanden die bürgerlichen Redaktionen zuallererst den
Vorwurf der „Feigheit“, der in ihren Augen in einigen ausländischen Zeitungen
zu lesen war, als Schmach und Prestigeverlust.195 Kompakt schlugen sich derartige
Einstellungen im einmal wöchentlich herausgegebenen Sonntagsboten, dem Or-
gan des katholischen Bauernvereins, nieder:
„Das kleine Serbien wagt es innerhalb eines Jahrzehntes zum dritten Male, Österreich in
unerhörter Weise zu beleidigen und herauszufordern. Österreich-Ungarn darf sich das
nicht länger bieten lassen, sonst verliert es den Rest seines Ansehens in Europa. Unser
Staat könnte dann mit Recht als ‚kranker Mann‘ bezeichnet werden.“196
u.
a. spiegelbildlich die Nationalitätenkonflikte ablesen. Diese Nationalitätenkonflikte galt es nun
– so die verklausulierte Aufforderung des Kaisers – zu unterbinden („Ich vertraue auf Meine
Völker!“).
190 Dieser Befund deckt sich weitgehend mit der Presselandschaft in Salzburg, zumal spätestens
seit Mitte Juli die Salzburger Zeitungen etwaige Kriegsforderungen, wie den Wunsch nach einer
„Strafexpedition“, zunehmend artikulierten, vgl. Dohle (2014), 18.
191 Leonhard (2014), 237, 263; Kronenbitter (2003a), 486.
192 Ebd.
193 Am 10.
August 1913 endete der Zweite Balkankrieg zumindest per Beschluss (Frieden von Buka-
rest). Es folgte der Vertrag von Konstantinopel (29. September 1913).
194 Österreich und Serbien, in: Sonntagsbote, 26.7.1914, 1.
195 Vgl. dazu auch: Bachmann (1972), 23 f., 50.
196 Österreich und Serbien, in: Sonntagsbote, 26.7.1914, 1.
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453