Seite - 111 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Fallende Börsenkurse | 111
nigstens forcierende Gründe: den Abfall der Skoda-Aktien206 oder die Bekannt-
gabe, dass die Verhandlungen über eine bestimmte Großproduktion von Eisen-
bahnschienen vertagt wurden.207 Das Gros an Einschätzungen sah die Ursache der
Kursfälle jedoch in den Folgen (!) des Attentats. Schuld am Fall vieler Kurse waren
nämlich den Grazer Redaktionen zufolge diverse „beunruhigende“ Aussagen so-
wie Treffen diverser ausländischer und österreichisch-ungarischer Politiker (z. B.
Ministerratstreffen). Der Arbeiterwille ging noch weiter, indem er sporadisch die
„kriegshetzerische“ Schreibweise der bürgerlichen Redaktionen für die Kursstürze
verantwortlich machte. Diesen Standpunkt brachte er beispielsweise in dem Arti-
kel „Die Folgen der Hetze“ von Mitte Juli zum Ausdruck: „Die Kriegstreibereien
der klerikalen und eines Teiles der deutschnationalen Hetzpresse machen sich
auch auf der Börse stark bemerkbar.“208 Weiter hieß es im Artikel: „Seit einigen
Tagen folgt Kurssturz auf Kurssturz und der Preis der Aktien und Wertpapiere
erreicht eine Tiefe, daß die großen Kapitalisten ihre helle Freude haben.“ Dort, wo
die Zeitungen nicht ausdrücklich einen Grund für die neuen Vorgänge an der Wie-
ner Börse angaben, scheint eine enorme Ratlosigkeit über den Kursverfall durch.
Ein Beispiel hierfür ist der Leitartikel des Arbeiterwillens vom 22. Juli: „Die Kurse
an der Wiener Börse sind Montag [den 20. Juli] wieder reißend gefallen.“209 Nach
dieser Feststellung setzte der Artikel mit folgender Frage fort: „Ob die Nachricht,
daß der Kriegsminister und der Generalstabschef, die sozusagen demonstrativ auf
Urlaub gegangen waren, nach Wien zurückkehrten und der Minister des Äußern
eine Audienz beim Kaiser in Ischl hatte, die Panik auslöste – wer will es wissen?“
Man erkennt daher auch an der Art und Weise, wie man über die fallenden
Kurse berichtete, wie unzufrieden, unsicher und ratlos man vonseiten der Presse
der neuen politischen Großwetterlage gegenüberstand. Das Ultimatum an Serbien
(23.
Juli) brachte in der Wahrnehmung weiter Bevölkerungsteile die entscheidende
Wende in einer im Großen und Ganzen hinter den Kulissen stattfindenden Juli-
krise, wobei die Presse nun zum ersten Mal seit Tagen wieder konkrete Staatsaktio-
nen thematisieren konnte. Auf den verregneten Grazer Straßen korrelierte das Ul-
timatum mit einem Andrang auf die Geldinstitute, der hauptsächlich von Frauen
206 Wiener Börse, in: Grazer Tagblatt, 7.7.1914, 13: „Von den Skodaaktien ausgehend, übertrug sich
die Ermattung auf die Gesamthaltung des Marktes.“
207 Wiener Börse, in: Grazer Tagblatt, 14.7.1914, 13: „Ungünstigen Einfluß übte die Mitteilung von
der Vertagung der Verhandlungen mit dem Schienenkartell wegen der staatlichen Schienenliefe-
rungen bis zum Herbste.“
208 Die Folgen der Hetze, in: Arbeiterwille, 15.7.1914, 2.
209 Der Hauch der Geschichte?, in: Arbeiterwille, 22.7.1914, 1.
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453