Seite - 115 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Ultimatum an Serbien | 115
nate ihrer verfassungsmäßigen Rechte und der Tribüne entbehren, von der aus sie ihren
Willen künden könnten.“226
Sollte es tatsächlich zu einem Krieg kommen, wären dieser Stellungnahme zufolge
diejenigen zur Verantwortung zu ziehen, die den Krieg „hüben und drüben ange-
stiftet haben“. Das Parlament trage keine Schuld, denn dieses war sistiert: „Dem
Volke ist es nicht vergönnt, über Krieg und Frieden zu entscheiden.“227 Sieht man
von der sozialdemokratischen Kritik am „Serbienkrieg“ ab, blieb im ersten Kriegs-
jahr in Graz ein einschneidender („lauter“) Widerstand gegen den Krieg oder ge-
gen den Staat aus. Schließlich kam es in Graz zu keiner angesetzten oder spontan
entstehenden Friedensdemonstration. Graz bricht in diesem Punkt entschieden
mit vielen Groß- und Mittelstädten Deutschlands, deren Julitage von Antikriegs-
demonstrationen geprägt waren, die zahlenmäßig weitaus mehr Menschen auf die
Straße brachten als die Kriegsdemonstrationen für einen Krieg zwischen Öster-
reich-Ungarn und Serbien.228 Das Fehlen eines groß angelegten Widerstands zeugt
dabei unverkennbar von der „Pflichterfüllung“ vonseiten weiter Bevölkerungsteile,
die mit einem hohen und mannigfaltigen Kriegseinsatz sowie mit einer breiten
Akzeptanz des „Verteidigungskriegs“229 korrelierte. Lediglich quantitativ marginal
ausfallende Einzelproteste (z.
B. ein paar heruntergerissene Mobilisierungsplakate,
mehrere regierungs- und majestätskritische Verbaldelikte, die geringe, aber doch
vorhandene Stellungsflucht) lassen sich quellenmäßig erfassen. So wurde im Rag-
nitztal „ein Student slawischer Nationalität verhaftet“, weil er ein Mobilisierungs-
plakat von der Mauer heruntergerissen hatte, einsteckte und flüchten wollte.230 Ein
Gehilfe eines Grazer Lebzelters riss wiederum einen im Hausflur vom Hausmeister
aufgeklebten Zeitungsartikel mit der österreichisch-ungarischen Kriegserklärung
an Serbien herunter. Dabei habe er dem Artikel zufolge „Wenn Rumänien rüstet,
freut’s euch, Schwaben!“ gesagt, weswegen er letztendlich verhaftet wurde.231 Ein
Schuhmachergehilfe rief nach dem Lesen des Mobilisierungsplakates „Nieder mit
dem Krieg!“ und wurde daraufhin zu einer dreimonatigen Gefängnisstrafe ver-
226 Arbeiter! Parteigenossen!, in: Arbeiterwille, 26.7.1914, 11.
227 Ebd.
228 Zu den Antikriegsversammlungen und -demonstrationen in Deutschland: Kruse (1993), 30–36.
229 Man „verteidigte“ die „Heimat“, die Familie, das „Vaterland“, den Fortbestand der Monarchie
oder prinzipiell die „Ehre“ des Staats. Mitunter mag es vorgekommen sein, dass man, sofern man
schon nicht wusste, wofür man kämpfte, so doch zumindest wusste, gegen wen und was man
kämpfte (z. B. gegen den „Hort der Reaktion“).
230 Verhaftung von Serbenfreunden, in: Grazer Tagblatt, 28.7.1914, 5.
231 Ein Serbenfreund verhaftet, in: Grazer Volksblatt, 28.7.1914, 4.
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453