Seite - 125 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Zur Trauerstimmung | 125
rücht, das von der Presse zerstreut werden musste, war jenes über einen Anschlag
auf die österreichisch-ungarische Gesandtschaft in Belgrad (Beograd).286
Stellt man sich daher den Grazer Alltag in den ersten Tagen nach dem Attentat
vor, so war dieser von heftigen Unwettern geprägt und niemand auf der Straße
oder in einem der (trocken gebliebenen) Gast- und Kaffeehäuser konnte eine treff-
sichere Auskunft bezüglich der Folgen von „Sarajevo“ geben. Zieht man die Zeitun-
gen als Gradmesser heran, ließe sich sagen, dass sich einige Menschen – und hier
in erster Linie jene aus dem sozialdemokratischen Milieu – einen möglichen eu-
ropäischen „Weltkrieg“ vorstellten konnten. Die meisten Grazerinnen und Grazer
dürften aber mehr den bürgerlichen Zeitungsstellungnahmen Glauben geschenkt
haben. Je mehr Tage vergingen, desto angespannter wurde auch der Alltag auf den
Grazer Straßen. Ausdruck fand dies in den vielen Denunziationen („Er ist ein Ser-
benfreund!“) sowie in den Verbaldelikten, die seit dem 28. Juni in Graz fast zur
Alltäglichkeit wurden. Schon am 3. Juli warnte der Arbeiterwille sein Publikum:
„Achtung, Denunzianten gehen um!“287 Die Denunziationen sowie die regierungs-
und majestätskritischen Verbaldelikte überforderten nicht nur die Grazer Behör-
den288, sondern lieferten auch den deutschnationalen Blättern den letzten „Beleg“
für ihre seit Jahren ernsthaft empfundene Infiltration der Steiermark durch „Sla-
wisches“ („Feinde ringsum“289). Fortwährend hieß es in den Zeitungen, dass ein
Slowene hier und ein „Serbenfreund“ dort festgenommen wurden. Als Beispiel
sei nur auf einen 15-jährigen Hilfsarbeiter verwiesen, der Anfang Juli vor einer
Geschäftsauslage in der Grazer Annenstraße, in der ein Bild des Thronfolgerpaares
ausgestellt war, unter anderem das Attentat guthieß.290 Dabei verstieß er rein recht-
lich gesehen gegen § 64 (Beleidigung von Mitgliedern des kaiserlichen Hauses)
und gegen § 305 (Gutheißung des Attentats)291 des zivilen Strafgesetzes. Gerade
diese vielen und im Laufe meiner Arbeit noch mehrmals zur Sprache kommenden
Verbaldelikte zeigen, dass Männer wie Frauen sich des Öfteren abschätzig über den
verstorbenen Thronfolger äußerten oder sie gar das Attentat guthießen. Obendrein
fand gestern in Gamlitz bei Ehrenhausen die Enthüllung des Denkmals für die Batterie der Toten
statt.“
286 Hetzerische Gerüchte, in: Arbeiterwille, 2.7.1914, 4.
287 Achtung, Denunzianten gehen um!, in: Arbeiterwille, 3.7.1914, 4.
288 De iure war nicht immer klar, ob tatsächlich ein „Verbaldelikt“ begangen wurde (Problematisch
erwies sich hierbei z. B. der alleinige Ruf „Hoch Serbien!“ bzw. „Živijo Serbija!“).
289 Der Deutsche Volkstag in Klagenfurt, in: Grazer Tagblatt, 22.6.1914 (Abendausgabe), 1.
290 Gutheißung des Attentates von Sarajevo, in: Grazer Tagblatt, 2.8.1914, 22.
291 § 305: „Öffentliche Herabwürdigung der Einrichtungen der Ehe, der Familie, des Eigenthums,
oder Gutheißung von ungesetzlichen oder unsittlichen Handlungen.“
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453