Seite - 126 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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| Sarajevoer Attentat und
Graz126
belegen sie aus meiner Sicht, dass es keine allgemeine Trauerstimmung gab.292 Im
Endeffekt schufen diese verhafteten „Serbenfreunde“ indirekt eine Atmosphäre
aus Angst und Ungewissheit. Der Feind schien bereits im Juli 1914 für viele Graze-
rinnen und Grazer an jeder Ecke zu lauern.293 Obendrein trug dieser Feind keine
(augenfällige) Uniform. Er trug normale Arbeitskleidung. Maßgebliche Invasions-
ängste oder gar Deportationsängste lassen sich für Graz – das während des Kriegs
nie ein Schauplatz militärischer Kampfhandlungen war – aber nicht bestätigen.
Derartige Ängste und Sorgen, die parallel mit „positiven“ Reaktionen auf den je-
weiligen Kriegsbeginn verliefen (oder verliefen konnten), kamen weitgehend in
grenznahen Regionen, in Kriegsgebieten oder in Hafenstädten zustande. Außer-
halb der österreichisch-ungarischen Monarchie ließen sich derartige Gefühlslagen
beispielsweise in Belgien, in Südost-England, in Freiburg im Breisgau, in Paris, in
Nancy und in Strasbourg nachweisen.294 In Österreich-Ungarn verspürte man diese
Ängste hauptsächlich in den Grenzregionen der Monarchie. Verwiesen sei hier auf
die „Frontstadt“ Lemberg (Lviv) im Königreich Galizien und Lodomerien sowie
auf Tirol, wo die „Heimat“ nach dem Intervento 1915 wirklich bedroht war.295 Für
Graz, das sich zwar als „Bollwerk“ gegen den „Süden“ und „Osten“ verstand, traf
dies aber nicht zu. Hier ließen sich weder im Juli noch im August oder im Septem-
ber merkliche Anzeichen für eine spürbare Angst vor einer russischen oder serbi-
schen Militärinvasion bzw. vor einer militärischen Besatzung inklusive Deporta-
tion der Steirer und Steirerinnen finden. Erstens spielte für weite Teile der Presse
der Russland-Faktor bis zum Ultimatum an Serbien (23.
Juli) keine Rolle. Zweitens
glaubte vermutlich niemand, der eine Landkarte lesen konnte, dass die serbische
Armee in die Steiermark einmarschieren könnte. Drittens kam es zu keiner Flucht-
bewegung der steirischen Bevölkerung in den „sicheren“ Norden. Und viertens
erkennt man das Fehlen einschneidender Invasionsängste und Deportationsängste
daran, dass nur sehr wenige Steirer und Steirerinnen auf die Behörde gingen, um
ein von ihnen gesichtetes „feindliches“ Flugzeug über steirischem Territorium zu
melden.296 Die steirischen Bezirkshauptmannschaften (BHs), gewissermaßen die
„Organ[e] der staatlich-landesherrlichen Verwaltung“297, protokollierten seit dem
292 Siehe die zwei Kapitel: Infiltrierendes „Spinnennetz“ und Ausschreitungen. Zu dieser Zeit äußer-
ten sich auch in Salzburg Personen abfällig über Franz Ferdinand, vgl. Czech (2010), 295 f.
293 Siehe, wie gesagt, die zwei Kapitel: Infiltrierendes „Spinnennetz“ und Ausschreitungen.
294 Liemann (2014) und (2013); Pennell (2008); Cronier (2007), 59; Grayzel (2006); Geinitz (1998),
321–350; Raithel (1996), 238.
295 Zu Lemberg (Lviv): Mick (2010), 69–79. Zu Tirol: Überegger (2014), 49 f. und (2007).
296 Zu den Flugzeug- und Luftschiffsichtungen kurz und bündig: Raithel (1996), 448.
297 Moll (2014), 24. Zur Geschichte der steirischen BHs vgl. Obersteiner (1992/93).
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453