Seite - 130 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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| Sarajevoer Attentat und
Graz130
Tausende[n]“319, die am Bahnhof oder Bahnhofsvorplatz die Ankunft des Zugs
erwarteten. Hierbei handelt es sich um die einzige Zahlenschätzung, bei der sich
die gesamte Grazer Presse einig war. Weder in den Wochen zuvor, als man bei-
spielsweise die Publikumsgröße bei den sozialdemokratischen Veranstaltungen
in der Grazer Industriehalle schätzte, noch in den Wochen danach, als man die
Größenordnung der abendlichen Menschenansammlungen in der Innenstadt
bezifferte, waren sich die Redaktionen einig. Abseits der offiziell erscheinenden
Gruppe von hochrangigen Politikern, Militärs sowie dem Fürstbischof von Seckau
(Leopold IV. Schuster), kamen laut den Zeitungen explizit „viele Frauen“.320 Dem
Arbeiterwillen zufolge kamen die weit über „tausend Neugierige[n], besonders
viele Frauen mit Kindern“ am Bahnhofsvorplatz, „aber ganz und gar nicht auf ihre
Rechnung“, da sie „außer dem Rauch der Lokomotive und ein paar Uniformen gar
nichts zu sehen bekamen.“321 Aus Sicht des Arbeiterwillens ging es den Anwesen-
den demnach mehr um die Sensation fernab jedweder Alltäglichkeit als um ernste
Kondolenz. Der Zug hielt in Graz keine zehn Minuten. In dieser Zeit überreichte
der Statthalter Manfred von Clary und Aldringen den mitgereisten Totenwachen
zwei Kränze. Weitaus länger dauerte hingegen das Spektakel rund um die vom Re-
gierungskommissär Anton Underrain von Meysing angeordnete Trauerbeleuch-
tung. Diese fiel zeitlich wie vorgesehen mit der Leichenfeier in Wien zusammen
(3. Juli zwischen 16 und 17 Uhr). Am Tag der Trauerfeier war die Abhaltung von
Theater- und Varietévorstellungen sowie sonstigen Vergnügungsveranstaltungen
(durch Erlass des k. k. Innenministeriums) verboten.322 Daran hielten sich die für
Graz in Frage kommenden Großveranstalter, wie zum Beispiel die Grazer Kinos,
das Varieté-Theater Orpheum, aber auch der Zirkus.323 Das Schauspielhaus und
die Oper hatten zu dieser Zeit Sommerpause. Die einstündige Trauerbeleuchtung
führte laut Tagblatt zu einem „ungemein regen Verkehr“ in der Innenstadt, zu-
mal „Tausende“ ins Zentrum zogen, „um das eigenartig-düstere Bild zu sehen.“324
Die Gartenlampen auf dem Grazer Schlossberg wurden „entzündet und mit Trau-
319 Der Hoftrauerzug in Graz, in: Grazer Tagblatt, 3.7.1914, 3. Ferner der Artikel: Die Heimfahrt der
Toten, in: Grazer Volksblatt, 3.7.1914, 1.
320 Der Hoftrauerzug in Graz, in: Grazer Tagblatt, 3.7.1914, 3.
321 Die Durchfahrt der Leichen des Thronfolgerpaares, in: Arbeiterwille, 3.7.1914, 7.
322 Vgl. z.
B. Keine Vergnügungsveranstaltungen am Freitag, in: Grazer Volksblatt, 2.7.1914 (Abend-
ausgabe), 3.
323 Edison-Theater [Annonce], in: Grazer Tagblatt, 3.7.1914, 10; Orpheum-Sommertheater, in:
Grazer Volksblatt, 3.7.1914, 6; Keine Vorstellungen im Zirkus Kludsky, in: Grazer Volksblatt,
3.7.1914, 6.
324 Die Trauerbeleuchtung in Graz, in: Grazer Tagblatt, 4.7.1914, 3.
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453