Seite - 143 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Abbruch der diplomatischen Beziehungen | 143
ker und Militärs ausgepfiffen und/oder tätlich angegriffen.32 Andere Gesandte sa-
hen sich wiederum damit konfrontiert, dass vor ihrem Privathaus oder vor der
Botschaft demonstriert wurde.33 Bei derartigen lautstarken Demonstrationen
schlug man gelegentlich die Scheiben der Gebäude ein. Vorfälle wie diese lassen
sich aber für Graz nicht nachweisen, zumal die Stadt über keine „Botschaften“ ver-
fügte.34 Das Entwerfen von Zukunftsszenarien sowohl in den Gast- und Kaffeehäu-
sern als auch auf der Straße stützte sich in diesen Tagen oftmals auf Gerüchte.35
Daran lässt sich in gewisser Weise auch der geringe Anteil der Presse an der öffent-
lichen Meinung ablesen. Besonders stark dürfte sich beispielsweise das vielfach in
den kriegführenden Staaten greifbare Gerücht über den (angeblichen) Tod des Za-
ren gehalten haben. Auch in den Grazer Zeitungen zirkulierte dieses nicht immer
dementierte Gerücht (Zeitgleich rätselten die Redaktionen über die politischen
Aktionen des Zaren).36 Die Zeitungen, die teilweise selbst Gerüchte streuten (oder
zumindest kommentarlos wiedergaben), kritisierten an anderen Stellen unentwegt
das Verbreiten von Gerüchten. Erfolgreich waren sie dabei nicht:
„Die zwecklose Rederei, besonders am Biertisch, soll auch deshalb vermieden werden,
weil gerade infolge dieser beunruhigenden Gerüchte eine Überängstlichkeit Platz greift,
auf der anderen Seite Unüberlegtheit in den Äußerungen und da es jetzt an Denunzian-
ten nicht fehlt, wird irgendeine bloß aus Dummheit weitererzählte Äußerung entstellt
weitergegeben, anderes wird aus Dummheit oder Bosheit dazu gedichtet und im Nu
ist eine Verhaftung mit Einlieferung ans Gericht und folgender Untersuchungshaft da!
Auf Einwendungen, daß nichts ‚davon‘ im ‚Arbeiterwille‘ steht, wird stets erwidert, die
32 Vgl. z. B. einen von vielen nachgewiesenen Vorfällen Deutschlands, wo ein russischer Gesandter
ausgepfiffen wurde, in: Zedler (2014), 57, 82.
33 Anfang Juli kam es in Wien zu mehreren Demonstrationen vor der serbischen Gesandtschaft,
die daraufhin von der Polizei bewacht werden musste. Von den Wiener Artikeln, die darüber
berichteten, siehe exemplarisch: Die Demonstrationen gegen die Serben in Wien, in: Neue Freie
Presse, 2.7.1914, 6. Über die Vorfälle berichtete man auch in Graz, vgl. z. B. die Berichte des
Arbeiterwillens: Eine verhütete „patriotische“ Demonstration vor der serbischen Gesandtschaft
in Wien, in: Arbeiterwille, 2.7.1914, 3; „Patriotische“ Bubenstreiche in Wien, in: Arbeiterwille,
3.7.1914, 2; Sonderbare Trauerkundgebungen der Patrioten, in: Arbeiterwille, 4.7.1914, 1.
34 Zum „Konsularwesen“ siehe die beiden Sammelbände: Wandruska/Urbanitsch (1989) und
(1993).
35 Ausführlich zu den (späteren) Kriegsgerüchten: Altenhöner (2008). Für Wien: Healy (2007),
141–148.
36 Der Sonntag, in: Grazer Tagblatt, 27.7.1914, 4: „Auch das Gerücht von der Ermordung des Za-
ren wollte nicht verstummen.“ Ferner der Artikel: Unwahre Gerüchte, in: Grazer Volksblatt,
27.7.1914 (Abendausgabe), 1. Vgl. parallel: Kein Attentat auf den Zaren, in: Kleine Zeitung,
28.7.1914, 7.
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453