Seite - 153 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Offengelegte Zeitungspolitik | 153
„Nun ist die Zeit gekommen, wo die Verlogenheit und Sensationssucht der Geldsack-
presse Orgien feiert. Angefangen haben sie mit falschen Nachrichten über eine An-
haltung des aus Gleichenberg durchreisenden serbischen Generalstabschefs [Radomir
Putnik] in Graz, mit einer vollständig erlogenen ‚Meldung‘ über ein Attentat auf den
General v. Hötzendorf und mit der Meldung über den Einmarsch der österreichischer
Truppen. Das ist so eine Kostprobe dafür, was von dieser Presse zu erwarten ist. Ander-
seits hat die ‚Tagespost‘ sofort gezeigt, wie frech und feig zugleich (echt [Oskar] Reiche-
nauer!) sie die jetzige Zeit des Ausnahmezustandes zur Verleumdung der Sozialdemo-
kratie auszunützen versuchen wird, um an dem großen Brande das Wassersüppchen der
Grazer [Ludwig] Kammerlanderclique mitzukochen! Wir richten an die Bevölkerung
die Mahnung, alle Nachrichten der bürgerlichen Sensationspresse mit größter Vorsicht,
mit Zweifel und Mißtrauen aufzunehmen. Ganz besonders ist der klerikalen Presse
(‚Grazer Volksblatt‘ und ‚Kleine Zeitung‘) bei dem entsetzlichen Unglück, das vielleicht
über Millionen von Menschen in Europa hereingebrochen ist, vor allem darum zu tun,
Abonnenten- und Leserfang zu betreiben und durch erfundene oder übertriebene ‚sen-
sationelle‘ Meldungen die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken! Ruhe und Besonnenheit,
klares Denken und kritische Überprüfung ist jetzt überall geboten. Des Unglückes und
der Beunruhigung ist genug da, sie brauchen nicht noch künstlich durch Sensationsgier
vergrößert und gesteigert zu werden!“81
Am schärfsten polemisierten die Redaktionen, wenn es um die allgegenwärtigen
Nationsfragen – und hier besonders um die Slowenenfrage – ging. Allerdings muss
hierbei hinzugefügt werden, dass man sich innerhalb einer „Zeitungsseilschaft“
nicht kritisierte. Das Volksblatt attackierte nie seinen Ableger, die Kleine Zeitung
(die wiederum sämtliche Artikel vom Volksblatt übernahm). Ebenso wenig kriti-
sierte die Mittags-Zeitung die Grazer Vorortezeitung oder die Deutsche Zeitung,
„zumal“ sie ein und denselben Chefredakteur sowie den gleichen Druck- und Ver-
lagsort hatten.82 Sehr wohl echauffierte sich die (auflagenschwache) Mittags-Zei-
tung über die anderen deutschnationalen Zeitungen. Insbesondere die Tagespost
wurde von der Mittags-Zeitung kritisiert.83 Die Intensität der gegenseitigen Pres-
seattacken variierte verständlicherweise. Dennoch verdeutlicht die Tatsache, dass
81 Kaltes Blut bewahren!, in: Arbeiterwille, 26.7.1914 (Separatausgabe), 2. Zur „Putnik-Affäre“ vgl.
das Kapitel: Abbruch der diplomatischen Beziehungen.
82 Ein gleicher Verlag, ein gleicher Redakteur, ein mehr oder weniger gleiches Layout muss nicht
zwangsläufig zu einer gleichen politischen Ausrichtung führen. Dennoch steht fest, dass dieses
„Zeitungsdreieck“ im Ersten Weltkrieg zusammenhielt, vgl. Thonhofer (2013).
83 Siehe z.
B. folgende Artikel: Oesterreichische und deutsche Truppen, in: Grazer Mittags-Zeitung,
5.9.1914, 2; Unsere Sonderausgaben, in: Grazer Mittags-Zeitung, 23.10.1914, 3; Der schönste
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453