Seite - 158 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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| Innenstadt und
Bahnhof158
heimbleibenden111 diverse Ratschläge erteilte, verklärte konträr zu den bürgerli-
chen Zeitungen die gefasste Stimmung vor den Plakaten oder im Amtshaus nicht.
Die Abwicklung der Unterstützungszahlungen verlief selten rasch und problemlos,
zumal die komplexe Bemessungsgrundlage mühselige Erhebungen vonseiten der
Behörden voraussetzte.112 Als Folge davon wandten sich einige Grazerinnen und
Grazer an die Zeitungsredaktionen. Im sogenannten Briefkasten der jeweiligen
Schriftleitung beantworteten die Tageszeitungen kostenlos Fragen ihrer Zeitungs-
abonnenten.113 Fragen von Nichtabonnenten wurden nicht beantwortet. Anonyme
Anfragen (ohne Unterschrift) wurden ebenso wenig berücksichtigt. Zudem war es
den Redaktionen verboten, ärztliche Ratschläge zu erteilen.114 Außerdem kam es
vor, dass einige der Antworten der jeweiligen Rechtslage widersprachen oder dass
sie zumindest die entsprechenden Paragraphen nicht wahrheitsgetreu widergaben
(vielleicht wusste man es nicht besser). Die kurz und bündig gehaltenen Antwor-
ten ermöglichen – auf rekursivem Wege – einen Blick auf Fragen, die sich den
Zeitgenossen stellten. Da der Verfasser (einer Frage) die Zeitung abonniert haben
musste, liegt der Schluss nahe, dass die politische Grundierung der Zeitung mit
der des Lesers im Normalfall deckungsgleich war. Das bedeutet aber nicht, dass die
veröffentlichte Meinung deckungsgleich mit den tatsächlichen Gesprächen auf der
Straße oder im Gasthaus sein musste. Der politische Konnex zwischen „Redakti-
onsfarbe“ und Zeitungsabonnent scheint mir allerdings zulässig zu sein. Teilweise
lassen die redaktionellen Antworten Rückschlüsse auf das Alter, das Geschlecht
oder die Konfession der Fragen-Stellenden zu. Prinzipiell schlugen sich in der
Briefkastenrubrik Dutzende kriegsbedingte Fragenkomplexe vonseiten der Grazer
Bevölkerung nieder. Anfang September lautete beispielsweise eine die Unterstüt-
zungsberechtigung betreffende Antwort wie folgt: „Die unehelichen Kinder haben
Anspruch, die Frau, weil sie nicht verheiratet ist, nicht.“115 Eine andere Antwort
lautete: „Ohne den Sachverhalt zu kennen, kann Ihnen die gewünschte Auskunft
nicht erteilt werden. Die Frau soll den Anspruch auf den Unterhalts- und Miet-
111 Das Bild von den „Daheimbleibenden“ oder den „Zurückbleibenden“ soll hier nicht abwertend
(im Sinne von ausschließlich „passiv“ bzw. „publikumsmäßig“) erscheinen. Ebenso wurden viele
Einberufene an der „Heimatfront“ oder in der Etappe eingesetzt (Aufrechterhaltung von „Ruhe
und Ordnung“, Durchführung der Requisitionen, Lageraufsicht und vieles mehr).
112 Siehe z. B. folgenden kritisierenden Artikel: Die Unterhaltsbeiträge der Angehörigen der zum
Kriegsdienste Eingerückten, in: Arbeiterwille, 11.11.1914, 5.
113 Die Grazer Mittags-Zeitung gilt diesbezüglich als Ausnahme, zumal sie eine derartige Rubrik
nicht führte.
114 Zu den Antwortbedingungen vgl. nur: Briefkasten der Schriftleitung, in: Grazer Tagblatt,
11.11.1914 (2. Morgenausgabe), 4.
115 Briefkasten der Verwaltung, in: Arbeiterwille, 6.9.1914, 10.
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453