Seite - 163 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Antisozialdemokratischer Demonstrationszug | 163
Die bürgerliche Presse ist voll von kleineren und größeren „Heldengeschichten“
von Grazer Soldaten, die als solche aus meiner Sicht das Heroenbedürfnis nicht
nur in den akademischen Kreisen forcierten. Schlussendlich führten sie einem vor
Augen, dass in diesem Krieg jeder Mann zu einem „Held“ (und das zu Lebzeiten)
werden konnte. Letztendlich akzentuierte daher die Presse je nach Artikel einmal
mehr das Individuum und ein anderes Mal mehr das Kollektiv. Im obigen Beispiel
von dem „Herrn aus der Menge“, der eine Ansprache hielt, setzte das Volksblatt
bewusst die Anonymisierungsmethode ein. In der Abendausgabe des gleichen Ta-
ges schrieb das Volksblatt hingegen, dass es sich bei dem Redner um den (damals
bekannten) Grazer Schauspieler Othmar Börner handelte. Dieser trug am Haupt-
platz „in schwungvoller Weise die schönen Verse von Theodor Körner“ vor.136 Dass
hier redaktionell Politik betrieben wurde, ist in Anbetracht der Tatsache, dass das
Volksblatt seit Mitte Juli ein härteres Vorgehen gegenüber Serbien forderte, nahe-
liegend. Am Ende gab es daher Artikel, in denen die Redaktionen die Redner na-
mentlich auswiesen und solche, in denen sie von einem ominösen „Herrn aus der
Menge“ sprachen. In jenen Fällen, in denen man näher auf den Redner einging,
handelte es sich bei diesem um einen Mann aus dem bürgerlichen/akademischen
oder aristokratischen Milieu: der Statthalter, der Vizepräsident der Statthalterei,
der Korpskommandant, Studierende, Priester, Künstler und Journalisten. Dessen
ungeachtet, wer nun in den Tagen rund um den Kriegsbeginn eine Rede hielt,
bildeten sich am Abend des 26. Juli zwei „patriotische“ Straßenumzüge. Der erste
glich im Wesentlichen jenem des Vortages, wenngleich die Menge an diesem Abend
die Burg vor dem Korpskommando aufsuchte. Bei der Burg traf der Umzug zwar
wieder nicht den Statthalter an, aber immerhin hielt Ferdinand von Stürgkh137, der
Vizepräsident der Statthalterei, eine kurze Rede, in der er sich für die Kundgebung
bedankte. Die Akklamation vor dem Korpskommando scheiterte ebenfalls.138 Emil
Colerus von Geldern hielt sich nämlich wieder im Steirerhof auf, woraufhin die
Menge sich – wie am Vortag – dorthin auf den Weg machte. Letztendlich traf man
den Korpskommandanten dort an. In den Zeitungen hieß es diesbezüglich, dass
Emil Colerus von Geldern eine Balkonrede hielt, „die mit beispiellosem Jubel auf-
genommen wurde.“139 Danach zerstreute sich die Menge. Viele suchten Schutz vor
dem Regen und gingen in das nächstgelegene Gast- oder Kaffeehaus.
136 Das Stimmungsbild in Graz, in: Grazer Volksblatt, 27.7.1914 (Abendausgabe), 1. Vgl. parallel:
Begeisterte Stimmung in Graz, in: Kleine Zeitung, 28.7.1914, 6.
137 Erschlossen mittels: Personal-Standesausweis der k. k. politischen Behörden im Herzogtume
Steiermark, der angegliederten Behörden und amtlichen Organe (1914), 2 und (1915), 2.
138 Begeisterte patriotische Kundgebungen, in: Grazer Volksblatt, 27.7.1914 (Sonderausgabe), 3.
139 Ebd.
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453