Seite - 167 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Grazer „Feldlager“ | 167
folge, sondern in einem mehr oder weniger wilden Durcheinander“.159Der Mangel
an Unterkünften konnte dennoch fürs Erste schnell behoben werden, da sich das
Militär sowohl in mehrere zivile Gebäude einquartierte (in der Universität, der
Technischen Hochschule, Schulen, der Industriehalle, der Brauerei Reininghaus,
dem Hallerschloss am Ruckerlberg usw.) als auch provisorische Baracken errichte-
te.160 In Graz gewährleistete einerseits die asymmetrischen Verteilungspräferenzen
des Staats in puncto Militär und Zivil (zugunsten des Militärs) diese Umfunkti-
onierung von Zivilbauten in militärische Einrichtungen, was aber nicht bedeu-
tet, dass in der Steiermark eine omnipräsente und omnipotente „Militärdiktatur“
entstand.161 Andererseits gewährleisteten langjährige Absprachen und Abkom-
men des Militärs mit staatlichen Institutionen, beispielsweise mit der Universität,
die Übernahme von Zivilbauten.162 Als militärisch günstig erwies sich der Um-
stand, dass die Grazer Schulen in diesen Tagen aufgrund der Ferien geschlossen
waren. Im Zuge des endlosen Einströmens der Soldaten in die Stadt Graz sowie
des schnellen Aufbruchs der Touristen und Touristinnen aus der Stadt wurde die
traditionelle Stadtfiguration entlang einer „Pensionopolis“ obsolet. Dieser Bruch
war naheliegend und wurde selbst von auswärtigen Zeitungen bemerkt. Sehr deut-
lich kam dies zum Beispiel in einem essayistischen Lokalaugenschein von Ludwig
Hirschfeld (1882–1945) zum Ausdruck, der in der Neuen Freien Presse (Wien)
veröffentlicht wurde: Die „liebliche, behaglich milde Pensionistenstadt“ sei nun
in Anbetracht der Mobilsierung verschwunden.163 Nirgendwo ließe sich mehr die
einstige „beschauliche Pensionistenstimmung“ vernehmen.164 Die Redaktionen
sprachen nun schlagartig von einem Grazer „Feldlager“, wie sie es seit Langem
nicht mehr gesehen und erfahren haben. Überall traf man auf Soldaten in den
neuen hechtgrauen (sprich: blau-grauen) Uniformen.165 Ebenso sah man viele Zi-
159 Rauchensteiner (2013), 150.
160 Einige Artikel hierzu: Eggenberg. (Von der Schule.), in: Grazer Vorortezeitung, 25.10.1914, 3;
Sanitätswidrige Zustände, in: Arbeiterwille, 7.8.1914 (Abendausgabe), 4; Einquartierung in der
Brauerei Reininghaus, in: Tagespost, 5.8.1914, 1; Im Zeichen des Krieges, in: Grazer Vorortezei-
tung, 16.8.1914, 1.
161 Siehe das Kapitel: Vier Leitpanoramen.
162 Golob (2011).
163 Einrücken, in: Neue Freie Presse, 2.8.1914, 13.
164 Ebd.
165 Die serbische, die belgische und die französische Armee hatten noch „bunte“ Uniformen. Alle
anderen kriegführenden Staaten hatten abseits ihrer Paradeuniformen auch „feldtaugliche“ Tarn-
bzw. Felduniformen. Großbritannien hatte khakifarbene Uniformen (seit 1902). Deutschland
hatte feldgraue bzw. grau-grüne Uniformen (seit 1907). Russland hatte weitgehend olivgrüne Uni-
formen (seit 1907). Italien, das 1915 in den Krieg eintrat, hatte grau-grüne Uniformen (seit 1909).
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453