Seite - 169 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Grazer „Feldlager“ | 169
Tage verringerte sich wieder ihr durchschnittliches Fahrtempo. Neue Straßen-
bahnfahrer und Schaffnerinnen wurden eingestellt.171 Mehrere Haltestellen wur-
den aufgelöst.172 Andere wurden in Bedarfshaltestellen umgewandelt. Nur einige
wenige Haltestellen wurden neu errichtet. Schenkt man den Zeitungen Glauben,
war der Straßenbahnverkehr seit Mitte September wieder „ziemlich geregelt.“173
Im Laufe des August 1914 nahm die auch für Graz geltende „Hyperaktivität des
Kriegsbeginnes“174 und die damit einhergehende „nervenaufreibende“ Erre-
gung (zeitgenössisch: in „Zeiten der allgemeinen Aufregung“175 oder die „erns-
ten, aufgeregten Zeiten“176) allmählich ab. Was blieb, war eine „Ambivalenz der
Gemütslagen“177, in der sich die Dichte an neuen Erlebnissen und Erfahrungen
entschieden erhöhte. Letztendlich lassen sich bereits Ende August erste Ansätze
eines in der Kriegszeit abnehmenden Straßenrhythmus greifen. Die Stadt wurde
mit Kriegsverlauf leiser, langsamer, dunkler und agrarischer, d. h. weniger mecha-
nisiert, weniger beleuchtet.178 Ausschlaggebend hierfür waren unter anderem der
Mangel an einigen Rohstoffen sowie die Tatsache, dass viele Zugtiere dem Militär
übergeben werden mussten. Davon betroffen war beispielsweise die Grazer Müll-
und Fäkalienabfuhr, die ihrem Dienst nur eingeschränkt nachgehen konnte. Bei
einer Stadt wie Graz, die ohnehin über kein den Anforderungen entsprechendes
Kanalnetz verfügte, führte dies zu schwerwiegenden Alltagsbedingungen. Graz sei
„als die stinkendste Stadt Europas verschrien“, hieß es 1917 wahlkämpferisch im
Arbeiterwillen.179
171 Vgl. z. B. die Presseaussendung: Der erste weibliche Kondukteur, in: Grazer Volksblatt, 31.7.1914, 3.
172 Verlautbarung, in: Amtsblatt der landesfürstlichen Hauptstadt Graz (31.8.1914), 398.
173 Von der Stadtbahn, in: Grazer Tagblatt, 15.9.1914, 3.
174 Geinitz (1998), 147.
175 Blinde Hetze gegen angebliche Serbenfreunde, in: Kleine Zeitung, 19.8.1914, 6.
176 Gegen Sensationsgerüchte, in: Grazer Tagblatt, 3.8.1914 (Abendausgabe), 7.
177 Begriff nach Christian Geinitz und Uta Hinz (1997), 26.
178 Ich stütze mich hier auf: Goebel (2014), 366; Cronier (2007), 58–64. Das Artilleriefeuer vernahm
man allem Anschein nach dennoch (vereinzelt) in Graz, vgl. zwei entsprechende Artikel aus
dem Jahr 1917: Schwerer Kanonendonner, in: Grazer Mittags-Zeitung, 3.11.1917, 2; Nächtlicher
Kriegsdonner, in: Arbeiterwille, 4.11.1917, 4.
179 Die Grazer Gemeinderatswahlen, in: Arbeiterwille, 4.11.1917, 7.
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453