Seite - 178 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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| Innenstadt und
Bahnhof178
bloß einmal in der Woche“ den Arbeiterwillen lese.222 Diese Falschmeldungen der
Presse sind meiner Ansicht nach nicht zwangsläufig Ausdruck einer böswillig „gei-
fernden“ Propaganda entlang einer (vermeintlichen) „Kriegskultur“.223 Welchen
Grund hätte der Arbeiterwille, rückwirkend die Chronologie zu ändern? Im Falle
der falsch datierten deutschen Kriegserklärung an Russland könnte man ihm noch
unterstellen, dass er so besser den Krieg gegen den Zaren legitimieren könnte.224
Aber warum datierte der Arbeiterwille am 9. August die italienische Neutralitäts-
erklärung auf den 7. August? Hinzu kommt noch, dass er bereits am 4. August
von Italiens Neutralität berichtete.225 Am Ende rätselten alle Redaktionen darü-
ber, wie sich Italien verhalten werde (siehe unten). Am 1. August stand für die
Grazer Presse fest, dass der Zar die Generalmobilmachung befohlen hatte. Am
selben Tag erklärte Deutschland dem „Zarenreich“ den Krieg.226 Ebenso leiteten
Deutschland und Frankreich die Generalmobilmachung ein. Noch am selben Tag
erfolgten die ersten militärischen Grenzüberschreitungen von russischer Seite. Am
2. August überschritt Deutschland die luxemburgische Grenze (und stellte Bel-
gien ein Ultimatum). Von der deutschen Kriegserklärung an Russland berichteten
die Zeitungen aber erst dezidiert am 3. August.227 Am 2. August, einem Sonntag,
sprach sie sowohl vom „drohende[n] Weltkrieg“228 als auch vom „Vorabende des
222 Die Leser der Sonntagsnummer!, in: Arbeiterwille, 9.8.1914, 5.
223 Zur Absage an das von Stéphane Audoin-Rouzeau und Annette Becker aufgestellte Konzept einer
monolithischen und auf Zustimmung zum Krieg basierenden „Kriegskultur“ (bzw. dem „Con-
sentement patriotique“ oder dem „patriotischen Konsens“) siehe exemplarisch die abschließen-
den Bemerkungen in dem Sammelband „Capital Cities at War“ (Band 2) von: Winter/Robert
(2007), 473 f.
224 Es finden sich in den Zeitungen auch bewusste Falschmeldungen bzw. Chronologieverzerrungen,
die (wider besseres Wissen) dazu dienten, einen bestimmten Tatbestand rückwirkend zu legiti-
mieren. Teilweise versuchte man durch derartige Falschmeldungen auch die Menschen für eine
bestimmte Sache zu animieren/mobilisieren.
225 Die italienische Regierung erklärt Italien für neutral, in: Arbeiterwille, 4.8.1914, 2.
226 Am 31. Juli 1914 erklärte der deutsche Kaiser Wilhelm den „Zustand drohender Kriegsgefahr“.
Einen Tag später, am 1. August, verkündete die deutsche Regierung die Mobilisierung.
227 Die Kriegserklärung des Deutschen Reiches an Rußland, in: Grazer Tagblatt, 3.8.1914 (Abend-
ausgabe), 1; Kriegserklärung Deutschlands an Rußland!, in: Arbeiterwille, 3.8.1914 (Abendaus-
gabe), 1.
228 Der drohende Weltkrieg, in: Arbeiterwille, 2.8.1914, 1: „Der Weltkrieg steht bevor! Rußland hat,
während der Deutsche Kaiser mit dem Zar verhandelte, derartig mobilisiert, daß sich Deutsch-
land und Österreich bedroht fühlten. So hat die deutsche Reichsregierung ebenfalls mobilisiert
und an Rußland die Aufforderung gerichtet, binnen 12 Stunden zu erklären, was die Mobilisie-
rung bedeuten soll. An Frankreich aber hat Deutschland die Frage gerichtet, wie es sich zu Ruß-
land verhalten werde. Österreich, Deutschland, Rußland mobilisiert, Frankreich und England
in der Mobilisation begriffen. Die Frist ist um, noch ist keine Antwort Rußlands da, aber das
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453