Seite - 180 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
Bild der Seite - 180 -
Text der Seite - 180 -
| Innenstadt und
Bahnhof180
chen sie nur von einer tatenlosen k. u. k. Regierung, die mit Serbien nicht hart
genug umgehen würde. Diese (auf einer falschen Informationslage fußende) Ein-
schätzung führte Mitte Juli sogar dazu, dass man von bürgerlicher Seite einen „Ser-
bienkrieg“ forderte. Nun herrschte aber Krieg zwischen Frankreich und Russland
auf der einen Seite und Deutschland auf der anderen Seite. Die Lokalisierungsfrage
reduzierte sich in weiterer Folge auf Großbritannien und Italien.233
Die italienische Neutralitätserklärung (1. August) wurde – ähnlich wie der
unerwartete rumänische Neutralitätsentscheid (3. August) – von der Presse ak-
zeptiert. Die Frage ist nur: Wann akzeptierte sie dies? Dass Italien neutral blieb,
erfuhren die Grazerinnen und Grazer am 4. August (Obwohl auch noch später
Artikel gedruckt wurden, die Gegenteiliges berichteten). Das Tagblatt brachte die
Meldung erst in seiner Abendausgabe.234 In seiner Morgenausgabe hieß es noch:
„Italiens Haltung ist noch unklar. Der Bündnisvertrag mit Italien ist nie veröffentlicht
worden. Es scheint aber nach der gestrigen Erklärung des italienischen Ministers des
Äußern, daß Italien in einem Kriege Deutschlands und Österreichs mit Rußland nicht
einzugreifen braucht. Erst ein Zweifrontenkrieg Deutschlands mit Rußland und Frank-
reich dürfte den Bündnisfall für Italien herbeiführen. Daher dürfte die heute gemeldete
Mobilisierung Italiens die Antwort auf die Mobilisierung Frankreichs sein. Italien würde
in einem siegreichen Kriege des Dreibundes gegen Frankreich die Anwartschaft auf Cor-
sica, Savoyen und Nizza sowie auf Tunis erlangen, also eigentlich die größten Vorteile
haben, auf jeden Fall größere, als alle italienischen Gebiete Österreichs wert sind.“235
In den Grazer Zeitungen war – konträr zu den Tiroler Zeitungen236 – dennoch
der Glaube, dass Italiens Kriegseintritt bei einem Sieg Österreich-Ungarns und
Deutschlands etwaige territoriale Gebietsansprüche bezüglich des Trentino oder
des Litorale (Triest/Trieste, Istrien und Dalmatien) wieder verschärfen würden
(die italienische „Irredenta“), nur vereinzelt vorhanden. Die Angst vor einem er-
folgreichen italienischen Präzedenzfall, der sich in weiterer Folge auf andere nicht
deutschsprachige Gebiete der Monarchie ausbreiten könnte, wurde nicht mit
Nachdruck betont. Vielmehr erhoffte sich die Grazer Presse von Italien, dass es auf
233 Die „eine“ Lokalisierungsfrage (nach der territorialen Ausbreitung, nach der zeitlichen Ausbrei-
tung, nach der wertetechnischen Ausbreitung, nach der gewalttechnischen Ausbreitung) gab es
freilich nicht. Es gab mehrere Lokalisierungsfragen.
234 Englisch-italienische Einigung auf vorläufige Neutralität, in: Grazer Tagblatt, 4.8.1914 (Abend-
ausgabe), 1.
235 Italien mobilisiert, in: Grazer Tagblatt, 4.8.1914, 15.
236 Überegger (2007).
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453