Seite - 184 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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| Innenstadt und
Bahnhof184
hegen wir Haß gegen das französische Volk, nicht gegen das englische und russi-
sche – aber die Kräfte, die sie treiben, sind gegen die in hundert Jahren mühsam
errungene Kultur gerichtet.“253 Daher: „Nieder mit dem Zarentum!“254 Diese rigo-
rose Trennung wurde vom Arbeiterwillen selbst nach Bekanntwerden der ersten
Kriegsgräuel nie zur Gänze aufgegeben. Augenfällig zeigte sich dies zum Beispiel
in seiner Abendausgabe vom 19.
September. Die Titelseite wird zur Gänze von der
auszugsweisen Übersetzung des Manifests der (kleinen, britischen) Independent
Labour Party (ILP) eingenommen.255 Auch die ILP trennte in ihrem Manifest zwi-
schen den „Herrschern“ und den „Sozialisten“ und behauptete, dass man nur einen
Krieg gegen Erstere führe, nicht aber gegen die „Genossen und Brüder“ anderer
Länder: „Unsere Sache ist heilig und unvernichtbar und unsere Arbeit ist nicht
vergeblich gewesen. Es lebe die Freiheit und die Brüderlichkeit, es lebe der inter-
nationale Sozialismus.“256 Derartige Stellungnahmen, ob nun vom Arbeiterwillen
selbst produziert oder von ihm von anderen Linksparteien übernommen, ziehen
sich quer durch seine Berichterstattung und sie wurden von der Staatsanwalt-
schaft mit Argusaugen verfolgt.257 Dazu zählen auch die positiven Stellungnah-
men zur 2. Sozialistischen Internationale258, die wiederum als solche, die „neue,
schwere Belastungsprobe“ hoffentlich bestehen werde.259 Zudem finden sich im
Arbeiterwillen Artikel, die die (zumindest verbalisierten) Friedensbemühungen
anderer europäischer sozialdemokratischer oder sozialistischer Parteien hono-
rierten. Mehrfach gelobt wurden etwa die französischen Sozialisten260, die eng-
lischen Arbeiter261 oder die serbische Sozialdemokratie.262 Zeitgleich produzierte
253 Ganz Europa in Bewegung!, in: Arbeiterwille, 6.8.1914, 1.
254 Ebd.
255 Zur Independent Labour Party und zur Labour Party siehe: Gregory (2014) und (2008).
256 Deutsche Arbeiter – unsere Genossen!, in: Arbeiterwille, 19.9.1914 (Abendausgabe), 1, 2.
257 Oberstaatsanwaltschaft an Statthalterei-Präsidium, 20.11.1914, in: StLA, Statt. Präs.
E92c/2740/1914.
258 Die Arbeiterinternationale und der Krieg, in: Arbeiterwille, 19.8.1914 (Abendausgabe), 3.
259 Der 50. Gedenktag der Internationale, in: Arbeiterwille, 30.9.1914, 6.
260 Eine Rede Jaurès’ über Deutschland und Frankreich, in: Arbeiterwille, 6.8.1914 (Abendausgabe),
4.
261 Die englischen Arbeiter gegen den Krieg, in: Arbeiterwille, 10.9.1914, 3.
262 Von der serbischen Sozialdemokratie, in: Arbeiterwille, 19.11.1914, 3: „Die entsetzlichen durch
den Krieg geschaffenen Bedingungen, in welchen sich das Land und das Volk in Serbien befin-
den, vermochten nicht, die Energie unserer Genossen lahmzulegen. Seit dem 21.
Oktober (3.
No-
vember) erscheint in Nisch [= die serbische Stadt Niš] das Tagblatt der Partei wieder. Trotz des
Druckes der Zensur erzählt die erste Nummer von den schweren Leiden, die der Krieg mit sich
gebracht hat. Die Organisationen sind auseinandergefallen. Am 12./25. Oktober fand in Nisch
eine Parteikonferenz statt, welche beschlossen hat, die größten Anstrengungen zu machen, um
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453